Sofia Goggia – die Speed- und Crash-Queen
Sofia Goggia war in den letzten Jahren in der Abfahrt das Mass aller Dinge. Allerdings ist bei der Italienerin der Grat zwischen Sieg und Sturz enorm schmal, statt zuoberst auf dem Podest landet sie regelmässig in den Fangnetzen oder gar im Spital.
Nachdem das Wetter den Männern in Zermatt einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht hat und letztes Wochenende die Abfahrtspremieren am Matterhorn verunmöglichte, versuchen nun die Frauen ihr Glück – auf einer neuen Piste, die nur über italienischen Boden führt. Die Hoffnung ist gross, dass das «Matterhorn Speed Opening» mit etwas Wetterglück zu einem Spektakel mit atemberaubender Kulisse wird, zumal das erste und für ein Rennen zwingend nötige Training am Donnerstag durchgeführt werden konnte. Auf den ersten vier Plätzen befanden sich drei Österreicherinnen (Christina Ager, Emily Schöpf, Christine Scheyer) sowie die Deutsche Kira Weidle. Auf dem fünften Platz landete als beste Schweizerin Corinne Suter, gefolgt von Sofia Goggia.
Die Italienerin, gestern 31 Jahre alt geworden, war in den letzten Jahren die stärkste Abfahrerin und wird auch in diesem Jahr der Massstab für die restlichen Fahrerinnen sein. Goggia gewann den Disziplinenweltcup bereits viermal – in der Saison 2017/18 sowie zwischen 2021 und 2023 – und dominierte die Disziplin in der letzten Saison mit fast 200 Punkten Vorsprung auf beeindruckende Art und Weise. Mit fünf Siegen und drei weiteren Podestplätzen aus insgesamt neun Abfahrten stellte sie die Konkurrenz in den Schatten, die restlichen Siegerinnen waren die Slowenin Ilka Stuhec (2), die Italienerin Elena Curtoni und die Norwegerin Kajsa Vickhoff Lie. In der WM-Abfahrt ging Goggia dagegen leer aus: eine Bodenwelle wurde ihr zum Verhängnis. Goggia verschnitt, wurde ausgehebelt, fuhr mit dem linken Ski durch ein Tor – Disqualifikation. Es war das jähe Ende des Medaillen- oder gar Goldtraums, denn die Italienerin lag bei der Zwischenzeit unmittelbar zuvor nur sechs Hundertstelsekunden hinter der Bündnerin Jasmine Flury, die überraschend WM-Gold eroberte.
Mit dem Messer zwischen den Zähnen
Für Flury war es auf höchster Ebene der erste Sieg in einer Abfahrt (ihren einzigen Weltcupsieg feierte sie vor sechs Jahren in St. Moritz in der Abfahrt), im Palmarès von Goggia stehen im Weltcup dagegen bereits 17 Abfahrts- und fünf Super-G-Triumphe sowie die Goldmedaille in der Olympiaabfahrt 2018. Gleichzeitig sorgte sie aber immer wieder mit Husarenritten und spektakulären Abflügen in die Fangnetze für Schlagzeilen. Sie fährt praktisch immer mit dem Messer zwischen den Zähnen, sucht in jedem Rennen das Limit, riskiert viel, geht nicht selten zu weit. Taktieren? Kennt sie nicht. «Sieg oder Sturz» heisst es bei ihr.
«Only the brave», «nur die Tapferen», ruft sie nach gelungenen Fahrten regelmässig. Und tapfer ist sie auch, die Waghalsige aus Bergamo. Das bewies sie beispielsweise im vergangenen Dezember in St. Moritz, als sie in der ersten Abfahrt mit der Hand heftig am dritten Tor anschlug und am Ende hinter Teamkollegin Curtoni Rang 2 belegte. Im Ziel hielt sich Goggia mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand und sagte: «Yes, it’s broken.» Ja, die Hand sei gebrochen. Nicht einmal dieses Malheur konnte sie aber stoppen. Goggia liess sich von einem Betreuer nach Mailand chauffieren, wurde an der linken Hand operiert; sie hatte sich drei Frakturen am zweiten und dritten Mittelhandknochen zugezogen, neun Schrauben und zwei Platten waren nötig, um den Schaden zu beheben.
«Normalsterbliche» legen eine Pause ein, nicht so Sofia Goggia: Am selben Abend reiste sie aus Italien ins Engadin zurück – und raste ein paar Stunden später in der zweiten Abfahrt zum Sieg. Bilder der Italienerin mit einbandagierter, blutiger Hand gingen um die Welt und zeigten, dass sie sich nicht von Schmerzen aufhalten lässt. Später erklärte sie: «In Peking habe ich eine Olympia-Abfahrt auf nur einem Bein gemacht. Nur eine Hand zu haben, war also okay. Als Skifahrerin ist es besser, beide Beine zu haben als beide Hände.»
Sie sprach damit die Olympiaabfahrt 2022 an, in der sie hinter Corinne Suter Silber gewonnen hatte, obwohl sie nach den medizinischen Prognosen nicht hätte am Start stehen sollen. 23 Tage vor dem Rennen des Jahres hatte Goggia im Super-G von Cortina d’Ampezzo einmal mehr alles riskiert, crashte heftig und zog sich verschiedene Verletzungen zu. «Verstauchung des linken Knies, Teilriss des vorderen Kreuzbandes sowie ein kleiner Bruch des Wadenbeins», teilte der italienische Verband als Diagnose mit. Und: Die Titelverteidigerin werde versuchen, sich bis zur Olympia-Abfahrt in Peking zu erholen. Das unmöglich Scheinende wurde denn auch Tatsache: Knapp drei Wochen später wurde Goggia 0,16 Sekunden hinter Corinne Suter Zweite. «Damals hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst», sagte sie später. Aber Angst dürfe man nicht verdrängen, man müsse sie umarmen, hatte sie schon früher einmal erklärt.
Lange Verletzungsliste
«Goggia-Style» bezeichnet sie selber ihren draufgängerischen Stil, der sich immer an der Grenze des Machbaren bewegt, teilweise darüber hinweggeht und schon mehrmals zu Verletzungen geführt hat. So zum Beispiel Anfang Dezember 2013, als sie eine Woche nach dem Gewinn ihrer ersten Weltcuppunkte in Lake Louise stürzte und sich einen Kreuzbandriss im linken Knie zuzog. Kurz vor Beginn der Saison 2018/19 stürzte Goggia im Training, erlitt einen Knöchelbruch, kehrte drei Monate später zurück und wurde im Super-G von Garmisch-Partenkirchen Zweite. Schon fast atypisch war, wie sie die WM 2021 in Cortina verpasste. Nach der Absage des Super-G in Garmisch fuhr sie bei schlechter Sicht in einen Schneehaufen, fabrizierte beim Sturz einen Salto und brach sich das Schienbeinplateau. Sechs Wochen danach wäre sie bereit gewesen, beim Weltcup-Final in Lenzerheide anzutreten, um sich die kleine Kugel für den Gewinn des Abfahrtsweltcup zu sichern. Das Rennen wurde jedoch wetterbedingt abgesagt, und Goggia gewann die Kugel kampflos.
167 Weltcuprennen hat Sofia Goggia mittlerweile bestritten. Ihr erster Einsatz auf dieser Stufe datiert aus dem Jahr 2011, als sie beim Riesenslalom in Lienz erstmals auf der Weltcupbühne auftauchte und den zweiten Lauf klar verpasste. Immerhin: Sie war in jenem Rennen über eine Sekunde schneller als Mikaela Shiffrin und Wendy Holdener. Von da an sorgte die Italienerin immer wieder für Schlagzeilen und wird es auch in Zukunft tun– durch Erfolge und Stürze, als Speed- und Crash-Queen.