Mutprobe Kitzbühel – wo schon einige Karrieren jäh endeten
An diesem Wochenende blicken die Ski-Fans gebannt nach Kitzbühel, wo sich die Gladiatoren des Abfahrtsrennsportes auf der Streif messen. Auf der gefährlichsten Strecke im Weltcup-Zirkus, wo schon viele Fahrer schwer stürzten und einige Karrieren abrupt zu Ende gingen.
Wer in Kitzbühel im Starthaus steht, dem schlottern die Knie. Es ist alles so verdammt steil und eisig, dass auch bei guten Skifahrern die nackte Angst regiert. Da in vollem Tempo runterrasen? Theoretisch unmöglich. Aber doch machbar, wie sich Jahr für Jahr zeigt. Auch wenn der Respekt der Athleten riesig ist – so, wie es auch bei Didier Cuche war, der sich vor seiner ersten Fahrt überlegte, das Starthaus wieder zu verlassen, nachdem von fünf Fahrern vor ihm vier gestürzt waren und drei mit dem Helikopter abtransportiert werden mussten. Cuche überwand sich, bestand die Mutprobe – und ist heute mit fünf Triumphen Rekordsieger.
In diesem Jahr nun gibt es nach dem ersten Training von verschiedenen Seiten die Einschätzung, dass die Streif zahmer sei als in den letzten Jahren. Doch die ersten Opfer fordert die schwierigste Abfahrt im Zirkus dennoch: Rémi Cuche, der Neffe von Rekordsieger Didier, zieht sich im zweiten Training eine Knieverletzung zu und muss mit dem Helikopter abtransportiert werden. Der Israeli Barnabas Szöllös stürzt nach der Mausefalle, verliert beim Aufprall den Helm und erleidet Gesichtsfrakturen. Es sind zwei weitere Athleten, die an der Streif gescheitert sind, wobei ihre Verletzungen vergleichsweise «harmlos» sind, wie ein Blick zurück zeigt.
Der schwere Crash von Daniel Albrecht
Den Schweizern in schlechtester Erinnerung ist diesbezüglich Daniel Albrecht. Der so talentierte Walliser gerät 2009 beim Zielsprung in Rücklage und knallt mit dem Hinterkopf auf die Rennstrecke. Er ist sofort bewusstlos, erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Lungenquetschung, liegt drei Wochen im künstlichen Koma – und gewinnt den Kampf gegen den Tod. 682 Tage später kehrt Albrecht in den Weltcup zurück, doch er schafft den Weg an die Spitze nicht mehr, fährt in drei Riesenslaloms in die Punkte (Ränge 21, 29 und 30) und beendet 2012 seine Karriere. Noch heute leidet er unter den Folgen des Sturzes, sein Kopf wird schneller müde.
Auf den Tag genau zwölf Jahre nach Albrechts Sturz verliert der Schwyzer Urs Kryenbühl ebenfalls beim Zielsprung die Balance, schlägt mit dem Kopf im Schnee auf, bleibt nach einigen Überschlägen liegen, verliert kurz das Bewusstsein, ist danach aber ansprechbar. Die bittere Diagnose, nachdem er mit dem Helikopter ins Spital gebracht wird: Gehirnerschütterung, Bruch des rechten Schlüsselbeines sowie Riss des Kreuz- und Innenbandes im rechten Knie. Im Januar 2022 erleidet Kryenbühl dann beim Europacup-Super-G in Saalbach-Hinterglemm einen Beckenbruch, im Dezember desselben Jahres zieht er sich – ohne zu stürzen – beim Super-G in Bormio einen weiteren Kreuzbandriss zu. Aktuell befindet er sich in einer Auszeit.
Es sind zwei Beispiele schwerer Stürze und Verletzungen, denen zahlreiche weitere hinzugefügt werden können:
Der Kanadier Todd Brooker erleidet 1987 bei einem Sturz bei der Einfahrt in den Zielhang eine Gehirnerschütterung, einen Nasenbeinbruch, Gesichtsverletzungen und eine Knieverletzung und zieht am Ende der Saison einen Schlussstrich unter seine Karriere.
5 Tage Koma, 25 Bluttransfusionen
Zwei Jahre später zieht sich sein Landmann Brian Stemmle bei der Steilhang-Ausfahrt lebensgefährliche Verletzungen zu, liegt fünf Tage im Koma, erhält 25 Bluttransfusionen und wacht am Geburtstag seines Vaters wieder auf. Nach drei Monaten im Krankenhaus und eineinhalb Jahren Reha kann der Kanadier auf die Skipiste zurückkehren, beendet aber 1999 seine Karriere.
1996 stürzen im Training mehrere Cracks wie die Österreicher Andreas Schifferer und Pepi Strobl oder der Norweger Lasse Kjus schwer. Schifferer erleidet beim Sturz am Zielsprung ein Schädel-Hirn-Trauma und liegt drei Tage im Koma. Er schafft aber den Weg zurück und gewinnt 1998 gar die Abfahrtskugel.
Drei Jahre später erleidet der Österreicher Patrick Ortlieb, Olympiasieger 1992 und Weltmeister 1996, bei einem Sturz an der Hausbergkante einen Trümmerbruch im rechten Oberschenkel sowie eine Absplitterung an der Hüftpfanne und weitere Verletzungen zu. Kurz darauf gibt er seinen Rücktritt bekannt.
2005 wird ein weiterer Österreicher ein Opfer der Streif: Thomas Graggaber erleidet bei einem Trainingssturz Serienrippenbrüche sowie schwere Verletzungen an Schulter und Lunge. Seine Laufbahn ist damit beendet.
Im Januar 2008, ein Jahr vor dem verhängnisvollen Sturz von Daniel Albrecht, stürzt der Amerikaner Scott Macartney beim Zielsprung schwer, verliert sofort sein Bewusstsein, schlittert in den Zielbereich, zuckt dreimal und bleibt regungslos liegen. Die Zuschauer denken, Macartney sei tot – doch es ist «nur» ein Schädel-Hirn-Trauma. Er wird ins künstliche Koma versetzt, erholt sich rasch und kann das Spital nach drei Tagen wieder verlassen. Im November 2008 gibt Macartney in Lake Louise schliesslich sein Comeback.
Drei Jahre später verliert der Österreicher Hans Grugger im Training in der Mausefalle die Kontrolle, schlägt bei der Landung mit dem Kopf auf und bleibt regungslos liegen: schwere Kopf- und Brustverletzungen zu. Er wird sofort in die Universitätsklinik nach Innsbruck geflogen, wo er nach einer Notoperation ins künstliche Koma versetzt wird und sich in akuter Lebensgefahr befindet. Für den Spitzensport reichte es nachher nicht mehr, am 24. April 2012 tritt der Speed-Spezialist nach 80 Weltcuprennen zurück.
Sturz-Orgie 2016
Viel zu tun haben die Ärzte 2016. Der Österreicher Max Franz stürzt im Training nach der Hausbergkante, fliegt ins Netz und zieht sich einen Kapseleinriss im linken Kniegelenk, einen Riss des vorderen Syndesmosebandes im linken Sprunggelenk und eine Absprengung am Mondbein am linken Handgelenk zu. Das Rennen wird dann zur Sturz-Orgie: Beim Übergang von der Kompression zur Schrägfahrt erwischt es der Reihe nach die Österreicher Georg Streitberger und Hannes Reichelt sowie wenig später auch den Norweger Aksel Lund Svindal. Er überschlägt sich und kracht in die Fangnetze. Er steht zwar auf und kann selber weitergehen, später werden jedoch ein Meniskus- sowie Kreuzbandriss diagnostiziert. Die Abfahrt wird aufgrund der immer schlechter werdenden Bodensicht übrigens nach dem 30. Fahrer abgebrochen.
Nicht alle hatten also in der Vergangenheit so viel Glück wie der Italiener Pietro Vitalini, der am 14. Januar 1995 an der Hausbergkante verschneidet, über das Sicherheitsnetz geschleudert wird, weit den Hang hinunter stürzt und sich dabei sieben Mal überschlägt. Dank tagelangem Schneefall bleibt Vitalini wie durch ein Wunder unverletzt – und wird in der zweiten Abfahrt Fünfter.
Da bleibt nur zu hoffen, dass die berühmt-berüchtigte Streif in den Abfahrten von heute und morgen, wenn die waghalsigen Speed-Cracks um das Siegerpreisgeld von 100'000 Euro kämpfen, keine weiteren Opfer fordert.