Marc Hirschi: Erster Schweizer Weltmeister seit Ösi Camenzind?
Ein Vierteljahrhundert ist es her, seit mit Oscar Camenzind letztmals ein Schweizer Radprofi Strassenweltmeister wurde. Heute bietet sich an der WM in Schottland die nächste Chance, diese Durststrecke zu beenden. Der grösste Trumpf ist dabei der Berner Marc Hirschi (24).
Es ist eine Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. An jenen 11. Oktober 1998, als Oscar «Ösi» Camenzind im holländischen Valkenburg auf der Strasse zum WM-Titel raste. Als erst dritter Schweizer nach Hans Knecht 1946 und dem legendären Ferdy Kübler 1951 eroberte er das prestigeträchtige Regenbogentrikot des Weltmeisters. 14 Kilometer vor dem Ziel griff er als Mitglied einer sechsköpfigen Spitzengruppe an – und liess im strömenden Regen seine namhaften Konkurrenten stehen: seinen Landsmann Niki Aebersold, den italienischen Topfavoriten Michele Bartoli, den Amerikaner Lance Armstrong, den Holländer Michael Boogerd und den Belgier Peter van Petegem.
Nun ist es in Schottland an der Zeit, die Schweiz wieder in der Siegerliste zu verewigen. Das Rennen in Glasgow ist 271,1 Kilometer lang, gespickt mit rund 3500 Höhenmetern, das Finale wird auf einem 14,3 Kilometer langen Rundkurs ausgetragen, der zehnmal absolviert werden muss, viele kleine Anstiege beinhaltet und jeweils 1,5 Kilometer vor dem Ziel hinauf zur Montrose Street führt; es ist ein kurzer, heftiger Anstieg, 200 Metern lang mit bis zu 10,8 Prozent Steigung.
Die Streckencharakteristik spricht dafür, dass ein Klassikerspezialist oder sprintstarker Allrounder am Ende die Arme in die Höhe reisst. Aus Schweizer Sicht ist es am ehesten ein Fall für Marc Hirschi (24), der zusammen mit Mauro Schmid (23), Stefan Küng (29), Stefan Bissegger (24), Silvan Dillier (33) und Fabian Lienhard (29) das sechsköpfige Team bildet. Hirschi griff schon vor drei Jahren an der WM in Imola nach dem Regenbogentrikot, musste sich damals aber dem Franzosen Julian Alaphilippe und dem Belgier Wout van Aert geschlagen geben und wurde Dritter.
Nach einer schwierigen Zeit mit Materialproblemen, Hüftproblemen, Stürzen und einem Bruch im Unterarm im vergangenen Februar zeigt beim Berner die Tendenz wieder klar aufwärts. Hirschi gewann 2023 die Ungarn-Rundfahrt, den Giro dell’Appennino, wurde Schweizer Strassenmeister und triumphierte Ende Juli bei einem Eintagesrennen im Baskenland. Und so sagte er vor dem heutigen WM-Rennen voller Selbstvertrauen: «Es wird wichtig sein, von Beginn weg vorne dabei zu sein. Die Positionskämpfe werden entscheidend. Es ist eine Strecke, bei der man pokern muss. Es gilt entweder alles oder nichts. Ich will Weltmeister werden.» Ähnlich tönt es von Nationaltrainer Michael Albasini, der als zweiten Trumpf auf Stefan Küng setzen kann: «Wir sind hier, um das Rennen zu gewinnen. Von einem Top-Ten-Ergebnis können wir uns nichts kaufen. Wir sind sicher nicht die Topfavoriten, aber wir planen es so, dass wir den Weltmeister stellen.»
Dank Hirschi und Küng lebt der Schweizer Goldtraum, doch auf dem Weg dahin müssen starke Gegner bezwungen werden. Da ist beispielsweise das starke belgische Team mit Titelverteidiger Remco Evenepoel, Wout van Aert, dem der kurvenreiche Rundkurs mit den kurzen, giftigen Anstiegen zusagen dürfte, oder Jasper Philipsen, der an der Tour de France mit vier Etappensiegen als bester Sprinter im Feld glänzte. Auch die Dänen verfügen mit Mads Pedersen und Kasper Asgreen über zwei heisse Eisen. Dazu kommt der Niederländer Mathieu van der Poel – und natürlich der Slowene Tadej Pogacar, der sich nach dem verpassten Triumph an der Tour de France nur zu gerne mit WM-Gold trösten würde. Der zweifache Tour-Sieger hat sich längst auch in Eintagesrennen in den Favoritenkreis gefahren, in dieser Saison gewann er unter anderem die Flandern-Rundfahrt und das Amstel Gold Race. Spannung ist auf jeden Fall garantiert.