Inter und der legendäre Müller
Der bayerische Angreifer Thomas Müller wird im kommenden Sommer seine überaus reiche Profikarriere beim FC Bayern München beenden. Umhüllt vom Glanz der Grössten, von einem Hauch unendlichen Respekts und der Erinnerung an einen einzigartigen Spieler. Und was, wenn der Höhepunkt seiner Karriere genau jetzt wäre – an diesem Dienstag, gegen Inter?
25 Jahre. Ein Vierteljahrhundert im selben Verein. Als Thomas Müller beim FC Bayern Fuss fasste, waren meine Journalismus-Studierenden noch nicht geboren. Aus dem oberbayerischen Hinterland stammend – wo im sanften Grün der ersten Alpenhügel das Herz Europas schlägt – wurde er 2008 vom damaligen Trainer Jürgen Klinsmann entdeckt, selbst einst ein gefeierter Stürmer. Sein Profidebüt gab er als Einwechselspieler für Miroslav Klose. Acht Jahre zuvor war er aus dem Jugendverein TSV Pähl, wenige Kilometer weiter südlich, zur Nachwuchsabteilung des FC Bayern gekommen. Früh wurde er von einer Münchner Trainerlegende behütet: Hermann Gerland.
25 Jahre. Mein Leben als Journalist. Ich habe über den Müller unter Louis van Gaal berichtet, „der immer spielt“, wie der geniale niederländische Bär es formulierte. Über den unwiderstehlichen Müller von 2010, Torschützenkönig der WM – nur Gerd Müller und Miroslav Klose haben das ebenfalls geschafft. Über den Weltmeister von 2014, gemeinsam mit seinen Bayern-Kumpels Manuel Neuer, Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger. Über den Müller unter Niko Kovač – der ihn einst am Mikrofon so harsch kritisierte, dass er sich später für dieses Majestätsverbrechen entschuldigte. Über den Müller am Tegernsee, bei den Sommertrainingslagern, stets lächelnd, professionell, aufmerksam, mit Respekt für jede Reporterfrage – halbironisch, halbernstaunlich, aber immer originell.
Ein „Garmisch-Korb“ voller Rekorde
Im Bayern-Olymp standen einst Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Lothar Matthäus. Nun gehört auch Thomas Müller dazu. Kein Analyst der Sky90-Runde am Sonntagabend stellte dieses Quartett infrage – es wurde wie selbstverständlich ausgesprochen. Denn Müller ist eine echte Grösse. Genau 743 Pflichtspiele für die Bayern – Sepp Maiers Rekord (709) übertroffen. Zwei Champions-League-Titel und zwei Triple-Saisons (2013 und 2020). Sechs DFB-Pokalsiege – nur Schweinsteiger (sieben) war erfolgreicher. Acht Supercups in zwölf Versuchen – ebenfalls Rekord. Zwölf Meisterschaften – auch das: alleiniger Rekordhalter. Insgesamt 33 Titel mit dem FC Bayern. „Sagen Sie 33!“, hätte einst Teamarzt Müller-Wohlfahrt gesagt – zur medizinischen Untersuchung des zweitberühmtesten Müller im Fussball.
Müller hat 15 Trainer erlebt, unter Pep Guardiola war er am treffsichersten: 79 Tore in 148 Spielen. Kein Wunder bei der Spielintelligenz beider. 17 Profisaisons in Folge – in den letzten 16 immer mindestens ein Treffer. Insgesamt 150 Bundesliga-Tore – bei Bayern toppen ihn nur Gerd Müller (365), Lewandowski (238) und Rummenigge (162). Hinzu kommen 177 Assists – absoluter Rekord. Denn Müller steht für Fussball, und Fussball ist ein Teamsport. Mit 247 Pflichtspieltoren ist er bei den Bayern die Nummer 3 hinter Gerd Müller (570) und Lewandowski (344). 358 Bundesliga-Siege hat er eingefahren – auch das: Rekord, vor Neuer (354) und Kahn (310), bei 496 Einsätzen – eine Marke, von der andere nur träumen können (Maier: 473). Ein Rekordkorb à la Garmisch – wobei Müller eher zum traditionellen Partenkirchen passen würde als zum schillernden Garmisch.
Matthäus: „Kapitän gegen Inter… und Torschütze in der 5. Minute!“
Diese Saison ist Müller meist Ersatzspieler – 20-mal in der Bundesliga, davon 16 Einsätze als Joker. Jamal Musiala hat längst die Rolle des Nachfolgers übernommen, mit ganz eigenem Genie. Doch die Nummer 10 der Nationalmannschaft verletzte sich Ende März gegen Augsburg und verpasst mindestens das Hinspiel im Champions-League-Viertelfinale an diesem Dienstag gegen Inter – mit Sommer und Pavard. Da könnte – sollte, sagen manche – Müller wieder auftauchen. Was für ein Symbol: Müller, im Sommer zum Rücktritt gebeten, als Stammspieler – vielleicht sogar als Kapitän – in diesem europäischen Gigantenduell? Das wünscht sich zumindest Lothar Matthäus. Er traut Müller sogar ein Tor in der 5. Minute zu!
Trainer Vincent Kompany liess sich in der Pressekonferenz am Montag natürlich nicht in die Karten blicken. „Es wird wichtig sein, dass wir Persönlichkeit zeigen“, sagte der Belgier immerhin.
Und genau das ist Thomas Müller: eine Persönlichkeit. Mehr als ein Fussballspieler. Ein Botschafter, ein Sprecher, ein Diplomat, ein Typ, ein Stil – nicht zu beschreiben. Eine Institution. Die Institution. Und der FC Bayern muss ihm einen würdevollen Abschied bereiten. Müller ist auch ein grossartiger Pferdeimitator – mit viel Witz – und tankt regelmässig neue Energie bei den Tieren, die seine Frau Lisa als erfolgreiche Reiterin betreut. Dieses Lächeln, diese Lockerheit, diese positive Energie – auch beim Abschlusstraining am Montag – machen ihn zum Meinungsführer: in der Kabine, auf dem Platz, in den Katakomben der Stadien. In dieser Rolle ist er unverzichtbar. Seine sportliche Leistung vielleicht weniger. Doch wenn Stadionsprecher Stephan Lehmann am Dienstagabend seinen Vornamen durch die Lautsprecher der Allianz Arena ruft, wird das Echo ohrenbetäubend sein.