In Australien den Killerinstinkt verloren
Keine Frage: Stan Wawrinka zeigte gegen Lorenzo Sonego eine starke Leistung. Zwei Monate vor seinem 40. Geburtstag spielte der Romand phasenweise sogar phänomenal gut - viel besser als meistens im letzten Jahr und viel besser auch als eine Nummer 156 der Welt. Während der vier Sätze und dreieinviertel Stunden unterliefen ihm bloss 13 unerzwungene Fehler! "Das war ein gutes Spiel meinerseits. Darauf kann ich aufbauen. Dass ich nicht gewann, ist aber trotzdem sehr enttäuschend", so Wawrinka im Interview mit dem Schweizer Fernsehen.
Denn am Ende ist entscheidend, was oben auf der Anzeigetafel steht. Und dort stand wieder, dass es für Wawrinka knapp nicht gereicht hat.
Vielleicht war es das für Stan Wawrinka in Australien. Qualifiziert er sich in einem Jahr noch einmal? Oder wird er nochmals (wie heuer) eingeladen? Spielt er dann überhaupt noch? Oder wird Wawrinka in dieser Saison irgendwann nach einem seiner liebsten Turniere den Rücktritt erklären? Vielleicht nach Roland-Garros? Oder nach den Swiss Indoors?
Solche Gedanken schiebt Stan Wawrinka zumindest gegen aussen hin noch weit von sich. Er will es nochmals wissen. Er will besser spielen als in der letzten Saison. Er will in der Gegenwart leben, denn "hier und heute spielt es keine Rolle, was früher war". Wawrinka ist der Meinung, dass die Vorbereitung gut verlief und er bereit ist für die neue Saison. "Aber ich bin auch Realist. Ich kenne mein Alter und weiss, was ich von mir erwarten kann", sagte er in Melbourne.
Nicht nur die Gegner, auch das Alter spielen gegen ihn. Einst zählten Kondition und Stehvermögen zu den ganz grossen Qualitäten Stans. Er zeigte in den besten Jahren auch Novak Djokovic und Rafael Nadal in fünften Sätzen gelegentlich den Meister. Jetzt sieht das anders aus. Von den letzten 21 Partien über drei oder mehr Sätze seit dem US Open 2023 gewann Wawrinka bloss fünf. Vor zehn Jahren verlor Stan von 42 derartigen Partien bloss deren neun.
Besonders offensichtlich wird diese Ineffizienz am Australian Open. 2014 gewann Wawrinka noch als Stanislas in Melbourne seinen ersten Grand-Slam-Titel. Vier Monate später änderte er offiziell den Vornamen auf Stan. Jahr für Jahr holte er an den Januar-Turnieren in Chennai (drei Turniersiege) und Melbourne ausreichend Punkte, um den Top-50-Status im ersten Monat der Saison schon zu zementieren. Seit 2021, als er in der zweiten Runde gegen Marton Fucsovics im Match-Tiebreak drei Matchbälle vergab und noch verlor, läuft in Melbourne alles gegen Wawrinka.
2022 liess eine Verletzung den Start nicht zu. 2023 vergab er gegen den Slowaken Alex Molcan (ATP 53) zwei Matchbälle und verlor in fünf Sätzen. Ein Jahr später führte er gegen Adrian Mannarino, der damals die Nummer 19 der Welt, mit 2:1 Sätzen und mit Breakvorsprung im vierten Satz, ehe er konditionell einbrach.
Heuer gegen Sonego brach Wawrinka über 3:13 Stunden nicht ein - sicherlich ein gutes Zeichen für die nächsten Turniere. Wawrinka kämpfte sich nach einem Fehlstart mit dem Gewinn des zweiten Satzes ins Spiel zurück. Im dritten Durchgang kostete ihn ein zweites schwaches Aufschlagspiel trotz Vorteilen den Satz. Und im vierten Satz besass Wawrinka bei 5:4, 40:0 drei Chancen, nach Sätzen nochmals auszugleichen.
Das Glück des Auch-Tüchtigen stand aber auf Seite von Lorenzo Sonego. Bestes Beispiel dafür der Ballwechsel im elften Spiel des dritten Satzes, als Wawrinka alle Vorteile auf seiner Seite hatte, am Ende aber der Italiener mit einem Passierball aus vollem Lauf mit dem Rücken zum Spielfeld das wegweisende Break schaffte. Mit Glück oder Pech mag "Stan the Man" die Niederlage aber nicht erklären: "Ich hatte meine Chancen in den Sätzen drei und vier. Ich nutzte sie nicht, weil Lorenzo (Sonego) in diesen Momenten mutiger spielte. Er schlug auch etwas besser auf. Deshalb verdiente er den Sieg. Ich hoffe jetzt, dass ich sehr schnell damit beginnen kann, auch wieder Matches zu gewinnen."