Exklusiv - Vincent Sierro: „Wir setzen uns keine Grenzen“
Der Schweizer Kapitän des Toulouse FC hat uns wenige Tage vor der Winterpause ein ausführliches Interview gegeben. Er spricht unter anderem über diese erste Saisonhälfte in der Ligue 1 Mc Donald's, seine EM mit der Nati und über die Situation seines ehemaligen Vereins: die Young Boys.
Seit zwei Jahren spielst du in der Ligue 1, du hast bereits Erfahrungen in der Super League und der Bundesliga gesammelt. Wie beurteilst du die französische Liga in Bezug auf Niveau und Intensität? Gibt es einen so grossen Unterschied zur Schweizer Liga?
Ja, es gibt schon einen Unterschied. Die Ligue 1 gehört zu den fünf grossen Ligen in Europa. Es ist eine Liga, die für ihre körperliche Härte bekannt ist, mit vielen Spielern von hoher Qualität, die physisch stark sind, aber auch technisch sehr talentiert. Das bedeutet nicht, dass in der Schweiz schlecht gearbeitet wird. Es gibt auch gute Teams in der Super League, aber hier haben die Vereine grössere finanzielle Mittel. In Frankreich ist das Niveau homogener, es ist immer sehr ausgeglichen, und es gibt keine "leichten" Spiele. Das sieht man beispielsweise an Brest, die in der Liga etwas kämpfen, aber in der Champions League eine bemerkenswerte Leistung zeigen.
Du hast Brest erwähnt, einen Verein mit bescheidenen Mitteln wie den TFC. Wenn du ihre Leistungen in der Champions League siehst, inspiriert euch das? Sagt ihr euch, dass es möglich wäre, in 2-3 Jahren die Champions-League-Hymne im Stadium zu hören?
Natürlich ist das eine Inspiration für uns. Die Champions League ist ein Traum, der vielleicht langfristig zu einem Ziel werden kann. Die Saison, die sie letztes Jahr gespielt haben, war eine, in der sie sich Schritt für Schritt gesteigert haben. Sie haben Vertrauen gewonnen, während sie eine starke Dynamik aufgebaut haben, und sie haben sich keine Grenzen gesetzt. Das war zu Saisonbeginn nicht geplant, deshalb kann man nicht in die Liga starten und sagen: „Wir wollen einen Champions-League-Platz erreichen“, weil es vor uns Vereine mit viel grösseren finanziellen Mitteln gibt. Aber wenn du in einer Situation bist, in der du eine starke Dynamik hast, Vertrauen aufgebaut wird und du gute Leistungen aneinanderreihst, musst du bereit sein, jede Gelegenheit zu nutzen. Man muss Schritt für Schritt vorgehen, ohne sich Grenzen zu setzen. Zum Beispiel sind wir jetzt in einer guten Dynamik, und wenn wir weiter Siege einfahren und in der Tabelle klettern… Am Ende wird sowieso alles bis zum letzten Spieltag entschieden. Wir glauben an unsere Qualitäten, ohne uns selbst Grenzen zu setzen.
Du wurdest sehr schnell zum Kapitän des TFC ernannt. Das ist ungewöhnlich für einen Spieler, so schnell diese Rolle zu übernehmen. Haben die Spieler wie beim PSG ihren Kapitän selbst gewählt, oder war es der Trainer? Und welche Qualitäten haben deiner Meinung nach dazu geführt, dass du zum Kapitän ernannt wurdest?
Hier war es der Trainer, der diese Entscheidung in Abstimmung mit der Leitung und dem Staff getroffen hat. Im Verein werden solche Entscheidungen immer gemeinsam getroffen. Ich denke, es gibt mehrere Gründe, warum ich so schnell zum Kapitän ernannt wurde: Zum einen meine Position auf dem Spielfeld, im Zentrum des Spiels, aber auch meine Persönlichkeit. Ich bin jemand, der auf und neben dem Platz viel kommuniziert. Ich versuche immer, meinen Mitspielern zu helfen, und ich habe ein gutes Verständnis für das Spiel, ein gutes Verständnis für die Bedürfnisse der Mannschaft. Ich bin gewissermassen das Sprachrohr des Trainers auf dem Platz. Ausserdem gab es damals eine besondere Situation, weil mehrere wichtige Spieler den Verein in diesem Sommer verlassen hatten. Zu diesem Zeitpunkt war ich der erfahrenste und älteste Spieler im Team.
Die Saison ist fast halb vorbei. Du hast also bereits gegen alle Teams gespielt. Welches Team hat dich persönlich am meisten beeindruckt? Und wer ist deiner Meinung nach der grösste Konkurrent des PSG im Titelkampf?
Marseille. Als wir sie zu Beginn der Saison gespielt haben, waren sie in einer guten Dynamik. Es war auch ein besonderes Spiel, weil wir nach 20 Minuten eine rote Karte bekommen haben. Sie haben ihre Überzahl gut ausgenutzt und waren mit dem Ball sehr interessant. Später hatten sie ein kleines Tief in der Saison, bevor sie wieder stark zurückkamen. Wir kennen die Situation in Marseille: Es ist ein Verein, der schnell in Extreme verfällt, daher ist es schwer, über eine ganze Saison hinweg kontinuierlich zu sein. Aber wenn sie Selbstvertrauen gewinnen... Es ist ein Team mit einem sehr interessanten Trainer und ambitionierten Spielideen, daher hat mir gefallen, was ich gesehen habe. Monaco, gegen die wir kürzlich gespielt haben, ist ebenfalls sehr stark. Es ist ein Team, das sehr gut presst und vorne Spieler hat, die den Unterschied machen können. Das sind die beiden Teams, die ich ausserhalb des PSG am interessantesten fand.
Welcher Spieler des TFC beeindruckt dich am meisten, sei es im Training oder im Spiel?
Ich möchte keinen einzelnen Spieler hervorheben, weil wir hier viele Spieler mit unterschiedlichen Qualitäten haben. Da gibt es Yann Gboho mit seinen Dribbelkünsten, der auch im Eins-gegen-zwei nicht zurückschreckt und den Mut hat, den Gegner herauszufordern und den Unterschied zu machen. Dann gibt es erfahrenere Spieler wie Djibril Sidibé, bei dem man sofort merkt, dass er eine grosse Karriere hinter sich hat. Oder Joshua King, der die Premier League erlebt hat, und Guillaume Restes, der sich enorm entwickelt, ein riesiges Potenzial hat, grossartige Qualitäten zeigt und sich sehr gut weiterentwickelt. Es gibt auch Gabriel Suazo, den ich sehr schätze – er ist ein wahrer Kämpfer, auf den man sich verlassen kann. Er kämpft viel, hat aber auch eine gute technische Qualität. Insgesamt haben wir hier sehr viel Qualität, aber wir müssen es schaffen, das jedes Wochenende auf den Platz zu bringen. Wenn uns das gelingt, werden wir eine sehr gute Saison spielen.
Du hattest die Chance, mit der Nati die Europameisterschaft zu erleben. Was hat dir diese Erfahrung als Spieler gebracht? Wie hat sie dich wachsen lassen?
Als Spieler war das eine grossartige Erfahrung, ein Traum, der für mich wahr wurde – an einem grossen Turnier für mein Land teilzunehmen. Ich konnte diesen Traum verwirklichen, und es lief sogar ziemlich gut: Wir sind bis ins Viertelfinale gekommen und hätten sogar noch weiter kommen können. Man lernt viel aus solchen Momenten, von den grossen Spielern, mit denen man zusammen ist. Man versucht, sie zu beobachten und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Du spielst grosse Spiele, und diese Erfahrung, die du sammelst, hilft dir in deiner weiteren Karriere.
Während dieser EM haben wir eine ambitionierte Nati gesehen, die gegen „grosse Teams“ wie Italien, Deutschland und England auf Augenhöhe gespielt hat – ohne übertriebene Bescheidenheit, wie eine grosse Fussballnation. Bestätigst du diese Einstellung, da du Teil dieser Gruppe warst?
Es gab einen Wendepunkt nach dem ersten Spiel gegen Ungarn, das wir gewonnen haben und in dem wir sehr gut gespielt haben. Von da an entstand eine Dynamik, mit viel Selbstvertrauen und der Euphorie der Fans. Wir fühlten uns nicht unbesiegbar, aber wir gingen mit grossem Selbstvertrauen und dem Willen, den Ball zu haben und den Gegner zu dominieren, in die Spiele. Mit Spielern wie Manuel (Akanji), Fabian (Schär) und Granit (Xhaka), die den Ball lieben, hilft das natürlich, den Gegner zu dominieren. Auch das Spielsystem war perfekt dafür. Wir hatten vor niemandem Angst, und ich denke, das hat man gesehen – sowohl gegen Deutschland als auch gegen Italien und selbst gegen England, wo wir letztlich erst im Elfmeterschiessen verloren haben.
Dein ehemaliger Verein, die Young Boys, erlebt einen alptraumhaften Saisonstart. Verfolgst du immer noch ihre Leistungen? Wo siehst du das Problem?
Ich habe immer noch viele Freunde im Verein, mit denen ich in Kontakt bin. Es stimmt, dass ihr Saisonstart schwierig war, besonders in der Champions League, auch wenn sie mit einem sehr schweren Los nicht gerade Glück hatten. Es darf nicht vergessen werden, dass sie wichtige Spieler verloren haben – Spieler, die viel Verantwortung getragen haben und die Anführer der Gruppe waren. Das spielt natürlich eine Rolle. Es gibt viele neue Spieler, junge Spieler, die die Spielphilosophie der Young Boys noch nicht verinnerlicht haben. Ich denke, sie müssen diese „YB-Philosophie“ wiederfinden, denn wenn man sich die Spiele momentan ansieht, sieht man nicht mehr so klar eine Identität wie früher. Der Erfolg der Young Boys in den letzten Jahren beruhte auf klaren Spielideen, basierend auf der Dominanz des Gegners und vielen Chancen. Das sieht man in letzter Zeit weniger. Sie haben genug Qualität im Kader, um das zu erreichen, aber die jungen Spieler müssen einen Schritt nach vorne machen und Verantwortung übernehmen. Sie haben die Situation in der Liga in letzter Zeit etwas verbessert, auch wenn es noch sehr inkonstant ist. Sie müssen diese Konstanz wiederfinden, um bis zum Schluss um den Titel kämpfen zu können.
Bald beginnt die Transferperiode. Schliesst du persönlich einen Wechsel im Winter aus, und ist der Verein derselben Meinung?
Ich fühle mich hier sehr wohl und bin auf meine Saison konzentriert. Wir haben Ziele, und ich möchte dem Verein helfen, so weit wie möglich in der Tabelle nach oben zu kommen und etwas im Coupe de France zu erreichen. Ich fühle mich in Toulouse sehr wohl, also gibt es keinen Grund, woanders hinzuschauen.
Du hast einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften gemacht. Hast du bereits eine Vorstellung, in welchem Bereich du dich nach deiner Karriere umorientieren möchtest?
Um ehrlich zu sein, habe ich diesen Bachelor eher aus Interesse und als Plan B gemacht, weil ich ihn begonnen habe, bevor ich Profi wurde. Nachdem ich meinen ersten Vertrag unterschrieben hatte, beschloss ich, ihn trotzdem zu beenden, um mir eine Möglichkeit für die Zeit nach meiner Karriere zu schaffen. Heute denke ich eher, dass ich im Fussball bleiben werde – sei es als Trainer oder in der sportlichen Leitung eines Vereins, wo mir dieser Bachelor vielleicht helfen könnte. Aber es ist noch zu früh, daran zu denken. Im Moment bin ich zu 100 % auf meine Spielerkarriere konzentriert. Ich will Spass auf dem Platz haben und achte sehr auf meinen Körper, um die bestmögliche und längste Karriere zu haben.