"Es ist kontraproduktiv, sich von Emotionen leiten zu lassen"
Gerardo Seoane ist aktuell der einzige Schweizer Trainer in der Bundesliga. Vor dem Borussia-Duell gegen Dortmund nimmt er sich Zeit für ein Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Gerardo Seoane, nach einer schwierigen letzten Saison läuft es nun besser. Aktuell liegt Ihr Team auf dem 10. Tabellenplatz. An welchen Schrauben haben Sie besonders gedreht?
"Die letzte Saison war eine Herausforderung. Es fand zuvor ein gewisser Umbruch statt in der Mannschaft. Wir spielten nicht so, wie wir uns das wünschten. Im Sommer arbeiteten wir das Ganze gemeinsam auf. Wir analysierten alle Bereiche, angefangen bei den Prinzipien, wie wir spielen wollen, und nahmen gewisse Anpassungen vor. Zudem holten wir Spieler, die neben der sportlichen Qualität auch eine gute Persönlichkeit mitbringen. Ein wichtiger Punkt sind auch die gemachten Erfahrungen der vergangenen Saison. Sie halfen der Mannschaft, sich weiterzuentwickeln."
Ihr entgingt im Frühjahr nur knapp dem Abstieg. Wie gehen Sie mit solchen Extremsituationen um?
"In einem so schönen, aber auch anspruchsvollen Job nimmt man Woche für Woche. Es ist ein Teil des Geschäfts, mit Emotionen aller Art bestmöglich umzugehen. Wichtig ist, stets sachlich zu bleiben und die Geschehnisse mit ein bisschen Distanz zu analysieren. Ich versuche, mir jeweils Freiräume zu verschaffen, um eine gute Balance zu finden und auch mal auf andere Gedanken zu kommen, denn die Präsenzzeit als Trainer ist schon sehr hoch. Das ist für mich jedoch keine Belastung, weil ich den Job einfach sehr gerne mache."
Zu Beginn der laufenden Meisterschaft lief es noch sehr harzig, aus den ersten sechs Spielen resultierten lediglich sechs Punkte. Haben Sie um Ihren Job gezittert?
"Ich finde, dass wir von Anfang an in der Saison mit guten Leistungen positive Signale aussendeten, sich die meisten Parameter in die richtige Richtung entwickelten. Aber klar lösten die Resultate auch bei mir etwas aus. Für mich steht jedoch im Zentrum, vorneweg zu laufen und Lösungen zu finden. Das sind meine Gedanken sowohl nach Siegen wie auch nach Niederlagen. Ich versuche stets, rasch wieder in den Modus der Entwicklung zu kommen."
Zum Ihren Jobprofil gehört auch, schwierige Entscheide zu kommunizieren, wie Jonas Omlin, dem Captain des Teams, zu sagen, dass er nur noch die Nummer 2 sei. Wie nah ging Ihnen das?
"Es ist immer wichtig, Argumente zu haben. Jonas war noch nicht bei 100 Prozent nach seiner Verletzung, während Moritz Nicolas seinen Job sehr gut machte. Aber natürlich baut man mit Spielern eine Beziehung auf und gibt es Gespräche, die einem schwerer fallen. Das gehört aber einfach dazu."
Als Sie im Sommer 2010 Ihre Karriere als Spieler beendeten, blieben Sie dem FC Luzern als Trainer erhalten. War es für Sie stets klar, diesen Schritt zu machen?
"Ich half schon während der aktiven Karriere die letzten drei, vier Jahre einmal in der Woche in der Nachwuchsabteilung mit. Es war immer meine Idee, direkt nach dem Karriereende im Nachwuchs zu arbeiten - der FC Luzern gab mir die Möglichkeit dazu. Es war sehr lehrreich, mit jungen Menschen zu arbeiten. Gleichzeitig absolvierte ich die Trainerausbildung. Dann ging es Schritt für Schritt nach oben. Zunächst waren meine Gedanken nicht darauf ausgerichtet, Coach von Profis zu sein, sondern vielmehr meine Erfahrungen in die Ausbildung einzubringen."
Im Januar 2018 wurden Sie dann zum Trainer der ersten Mannschaft befördert. Ein halbes Jahr später zogen Sie zu den Young Boys weiter, mit denen Sie dreimal in Folge den Meistertitel und einmal den Cup gewannen. Dann ging es weiter zu Bayer Leverkusen und nun Borussia Mönchengladbach. Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, um als Trainer erfolgreich sein zu können.
"Ich glaube, wichtig ist, sich genügend Zeit zu lassen, den Beruf kennenzulernen. Die acht Jahre im Nachwuchs öffneten mir den Horizont. Dann hatte ich immer das Glück, mit tollen Leuten zusammenzuarbeiten, sei es in Luzern mit Remo Mayer, in Bern mit Christoph Spycher, in Leverkusen mit Simon Rolfes oder nun hier mit Roland Virkus. Als Coach benötigst du die Unterstützung deiner sportlichen Führung. Es braucht eine offene, klare Kommunikation, das Bekenntnis, gemeinsam etwas entwickeln zu wollen. Diesen Support spürte ich in den bisherigen vier Stationen extrem. Je transparenter die Zusammenarbeit ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, Probleme miteinander meistern zu können."
In der Bundesliga wird jedes Detail von den Medien durchleuchtet, jedes Wort im Mund umgedreht. Als wie mühsam empfinden Sie das?
"Dieser Bereich gehört dazu, tangiert mich jedoch weniger, weil ich mich damit nicht befasse. Ich mache mit dem Trainerteam und den Direktbeteiligten im Sport die Analysen, dabei gehen wir selbstkritisch miteinander um. Es ist ein Teil unseres Jobs, zu entscheiden, wie wir nach aussen kommunizieren wollen. Da muss jeder Trainer den eigenen Weg wählen. Für mich ist klar, dass ich mich nicht zu jedem Thema äussern muss. Ich versuche, unsere Zuschauer, unsere Fans sachlich zu informieren, wie ich die Situation einschätze, wie ich das Spiel bewerte, wie unsere Idee ist und mich nicht bei Sachen zu exponieren, bei denen meine Meinung weniger gefragt ist."
Leverkusen führten Sie in der ersten Saison als Dritter in die Champions League, im zweiten Jahr wurden Sie aber bereits nach acht Meisterschaftsspielen entlassen. Wie stark hat Sie das getroffen?
"Natürlich ist eine Entlassung nicht das, was man sich wünscht. Ich sah mich mit Energie, Lust und Freude bei der Arbeit, doch entscheidet der Klub. Natürlich traf mich das, war ich enttäuscht, weil ich es nicht schaffte, den Negativtrend zu unterbrechen. Aber auf der anderen Seite bin ich nicht der erste und nicht der letzte Trainer, der entlassen worden ist. Ich werde die Mechanismen dieses Geschäfts nicht ändern können, auch wenn ich der Überzeugung bin, dass ein Trainerteam eine gewisse Zeit braucht, um Veränderungen vorzunehmen und diese ineinandergreifen."
Nach der Entlassung waren Sie fast ein Jahr nicht mehr Trainer. War das ein bewusster Entscheid?
"Nach zwölf Jahren als Trainer und vorher 15 Jahren als Aktiver hatte ich das Bedürfnis, eine Auszeit zu nehmen und zu regenerieren, um auch Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Ich nutzte die Pause aber auch dazu, meinen Horizont ein bisschen zu erweitern. Ab Mitte März, April (2023) war ich dann wieder offen für neue Herausforderungen."
Können Sie überhaupt sein ohne Fussball?
"Direkt nach der Entlassung hatte ich die ersten zwei, drei Wochen praktisch keinen Berührungspunkt mit dem Fussball. Dann kam die WM in Doha, wo ich eine Woche Spiele schaute. Ich fing mit 16 Jahren im bezahlten Fussball an, nun bin ich 46, das sind also 30 Jahre im Fussballbusiness. Beim Job als Trainer geht es ja nicht nur um den runden Ball, sondern er hat ja viel mehr Inhalt. Man arbeitet mit jungen Menschen zusammen, mit Spielern aus anderen Kulturen, hat mit den Medien zu tun. Von daher kann ich es mir kaum vorstellen, mal einen Job auszuüben, der keine Verbindung zum Fussball hat."
Sie arbeiten schon lange mit einem Mentor aus dem Bereich Management und Leadership zusammen. Was konkret bringt Ihnen das?
"Weil unser Jobprofil dermassen anspruchsvoll ist, braucht ein Coach eine Betreuung, sei es im Vertraglichen, sei es im Rechtlichen. Es ist für mich zudem wichtig, um mich weiterzuentwickeln zu können, einen privaten Ansprechpartner zu haben, dem ich zu 100 Prozent vertraue und mit dem ich über meine Ideen sprechen kann. Da geht es auch darum, wie ich mit gewissen Situationen umgehen, an welchen Schrauben ich drehen kann, um meine Mannschaft neu zu inspirieren. Es geht nicht um Fussballinhalte, sondern um Themen, wie man in diesem Job mit den ganzen Herausforderungen möglichst optimal umgeht."
Sie sind jemand, der die Emotionen nicht so nach aussen trägt. Ist das etwas, was Sie gelernt haben oder sind Sie von Natur aus so?
"Ich glaube, es ist wichtig, es irgendwie zu schaffen, die Emotionen zu kanalisieren, das heisst aber nicht, sie zu unterdrücken. Ich bin der klaren Überzeugung, dass es kontraproduktiv ist, sich bei Entscheiden von Emotionen leiten zu lassen. Das kann man trainieren, in dem man sich gewisse Werkzeuge aneignet, beispielsweise einen tiefen Atemzug nimmt, um mich nicht sofort emotional zu reagieren. Es ist eine ständige Weiterentwicklung."
Zum Schluss zurück zum Aktuellen. Am Samstag empfängt Ihr Team Borussia Dortmund. Ist das Borussia-Derby für Sie ein spezielles Spiel?
"Mit Borussia Dortmund herrscht schon eine gewisse Rivalität. Da der BVB für mich von der Kaderqualität her zu den Top-4-Vereinen in Deutschland gehört, ist das Duell immer eine Herausforderung. In erster Linie freuen wir uns aber, wieder zu Hause zu spielen. Wir konnten die letzten Heimspiele positiv gestalten (vier Siege in Serie). Das Publikum hier ist sehr leidenschaftlich, steht zu 100 Prozent hinter und das spüren wir natürlich."