Bayern vs Inter: Taktikanalyse – Inzaghi, das Chamäleon, gegen Kompany, der Bastler
Ein europäischer Klassiker, wie er im Buche steht – und diesmal könnte das Spiel durch kleinste Anpassungen entschieden werden, zumal beide Teams mit Verletzungssorgen zu kämpfen haben. Während der FC Bayern zuletzt eine gewisse Geschicklichkeit im Improvisieren gezeigt hat – etwa mit der cleveren Korrektur im Spiel gegen Leverkusen –, steht auch der Gegner dem in nichts nach, wenn es darum geht, sich taktisch zu verbiegen, um die gegnerischen Stärken zu neutralisieren. Ein erstes Erfolgserlebnis für die Münchner – aktuell ohne Upamecano und Davies – wäre es daher schon, hinten die Null zu halten. Zumal einiges darauf hindeutet, dass die Inter diesmal mutig auftreten wird.
Herr Bastler – Die aggressive Defensivorganisation des FC Bayern
Schon in den ersten Auftritten unter Vincent Kompany im Sommer war klar zu erkennen, wie der neue Trainer in der Defensive denkt: totales Pressing, mit dem Ziel, dem Gegner jede Möglichkeit zu nehmen, freie Männer in der Spielauslösung zu generieren. Selbst PSG hat daraufhin sein übliches Aufbauspiel angepasst und versuchte, über das Pressing hinwegzuspielen.
Das war eine der prägnantesten Szenen beim Bundesliga-Rückspiel gegen Leverkusen: Die Bayern wurden phasenweise an die Wand gespielt – und hielten trotzdem die Null. Wieder einmal orientierten sie sich stark am Gegner – was ihrem sogenannten "Modell" entspricht – und verloren dadurch zunehmend ihre eigene Struktur:
Olise und Coman wurden zu Aussenverteidigern degradiert, zurückgedrängt von den Leverkusener Wingbacks unter Xabi Alonso. Wie schon gegen PSG rückten Kim oder Upamecano abwechselnd aus der Viererkette heraus, um die zahllosen Bewegungen in die Tiefe zu verfolgen – insbesondere von Wirtz, der an jenem Abend als zweiter Stürmer agierte.
Und doch – und das ist vermutlich der Einfluss von Rene Maric, dem analytisch geprägten Co-Trainer von Kompany – beherrschen die Bayern das taktische Improvisieren mit beachtlicher Effizienz.
Manchmal muss man sich eben anpassen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Das wurde ganz deutlich beim zweiten Duell zwischen den beiden deutschen Teams – diesmal auf europäischer Bühne: Die Bayern änderten ihre Marschroute und gaben Kimmich, nicht einem Innenverteidiger, die Aufgabe, Wirtz zu verfolgen.
Upamecano und sein Nebenmann waren somit in Überzahl gegen Adli, der in der Theorie als zentrale Spitze auflief.
Auch ohne grosse Raumgewinne stoppen die Bayern die vertikale Power von Leverkusen. Dennoch bleiben typische Elemente ihres "Modells" erhalten, wie etwa die individuelle Verantwortlichkeit der Verteidiger.
Wirtz wird neutralisiert, ohne die Viererkette zu verzerren – Kimmich übernimmt diese Aufgabe. Das Defensivspiel lässt sich als Kampf um die numerische Überlegenheit um den Ball herum zusammenfassen. Gerade gegen die quirligen Spieler des B04 ist Absicherung das A und O.
In der letzten Phase des Spiels wird es besonders deutlich: Grimaldo (eigentlich linker Mittelfeldspieler) zieht zur Ballseite, um eine zusätzliche Passlinie zu öffnen.
Die Aktion beginnt links:
- Kimmich bleibt eng bei Wirtz, der FC Bayern akzeptiert das „-1“ vorne, um das „+1“ hinten abzusichern.
- Durch den Vorstoss von Hincapié und Grimaldos Abkippen findet Bayer eine Lücke zwischen den Linien.
Trotz numerischer Unterlegenheit vorne stiften Adli und Wirtz Unruhe mit ihren Kreuzläufen, insbesondere gegen das Trio Kimmich – Upamecano – Kim. Kim wird erneut herausgezogen. Grimaldo zögert, aber die Bayern-Verteidiger zeigen sich anfällig.
Frimpong bleibt auf rechts und tritt beim Seitenwechsel der Aktion in Erscheinung. Wieder ist es Kimmich, der sich eng an Wirtz orientiert, doch Grimaldo, der vom linken Flügel stark zur Ballseite rückt (und somit das numerische Plus der Bayern kontert), zwingt Kim erneut zum Herausrücken.
Für einen Moment hätte Frimpong sogar die perfekte Passlinie gehabt, um Adli in ein brandgefährliches 1-gegen-1 mit Upamecano zu schicken.
Ein gutes Stellungsspiel rettet die Bayern in dieser Sequenz. Obwohl sie das „+1“ verteidigen wollen, zeigt sich hier deutlich, wie leicht die Innenverteidiger manipulierbar sind.
Und wer könnte solch ein Szenario besser bestrafen als Simone Inzaghi?
Welche offensive Anpassung für Inter?
Der italienische Taktikfuchs – ein echtes Chamäleon im Pokalmodus – teilt mit Leverkusen die Vorliebe für Kurzpass-Kombinationen auf engstem Raum. Es liegt daher nahe, dass Inzaghi gezielt die riskanten Ausrückbewegungen der Bayern-Innenverteidiger provozieren und bestrafen will.
Der Inter-Coach hat sich schon mehrfach als Spezialist gegen solche Defensivsysteme hervorgetan, wie etwa in den Partien gegen Atalanta – besonders jüngst beim überzeugenden Auswärtssieg in Bergamo:
Das klassische Spiel mit Ablagen – schon der FC Barcelona wusste es in der Gruppenphase auszunutzen, als Bayern unter die Räder kam. Auch hier: Kim stürmt auf Lewandowski heraus, während Kimmich in seiner Rolle als Absicherer versagt.
Wie auch gegen Leverkusen sieht man: Kimmich wird frontal in Situationen gezwungen, in denen seine Rolle zwischen Manndeckung und Absicherung verschwimmt. Genau solche Verwirrung wird Inzaghi gezielt provozieren.
Inzaghi-Ball
Eine Taktik-Binsenweisheit besagt: Wer gegen eine Dreierkette spielt, muss selbst irgendwie zu dritt hinten verteidigen. Die Breite, die durch die gegnerischen Wingbacks erzeugt wird, zwingt die eigene Abwehr zu grösserer Horizontalität, was meist nur durch einen dritten Verteidiger kompensiert werden kann.
Da der FC Bayern mit zwei Innenverteidigern aufläuft, muss dieser „Retter“ entweder ein einrückender Aussenverteidiger oder ein abkippender Mittelfeldspieler sein.
Damit dieses Gleichgewicht gar nicht erst entsteht, kann man davon ausgehen, dass Inzaghis Inter extrem flexibel im Ballbesitz agieren wird – gerade in Anbetracht der oben beschriebenen Schwächen der Bayern.
Man kann zunächst davon ausgehen, dass das Bayern-Trio [Sané – Kane – Olise] im Eins-gegen-eins auf die Inter-Dreierkette trifft. Das Mittelfeld-Dreieck [Çalhanoğlu – Mkhitaryan – Barella] dürfte sich grob an [Kimmich – Palhinha – Müller] orientieren. Gleichzeitig wird das Bayern-Back-Four wohl versuchen, die Inter-Wingbacks durch horizontales Verschieben zu kontrollieren.
Die beiden Achter im 3-1-4-2 der Nerazzurri werden ihre gewohnte Position deutlich verlassen müssen – falls es überhaupt eine „gewohnte“ gibt.
Wie schon gegen Thiago Mottas Juventus, die defensiv ähnlich agierten wie Bayern, dürfte der ballnahe Inter-Achter sehr weit aussen agieren, um die Arbeit von Olise und Sané zu stören. Ziel: den Flügel doppeln – wie es Leverkusen bereits erfolgreich vorgemacht hat.
Damals gegen Juve entzog sich das Inter-Mittelfeld dem Druck durch radikale Breite, wodurch die Offensivstruktur wie ein grosser Kreis ohne Zentrum wirkte.
Wenn sich in einem solchen Szenario der ballseitige Sechser der Bayern aus der Mitte herausziehen lässt, wird die vertikale Bewegung des ballfernen Inter-Sechsers zum Schlüssel. Das Ergebnis: asymmetrische Spielstrukturen, ganz im Sinne von Inzaghis geometrischem Verständnis.
Solche Mechanismen der Desorganisation und Entkopplung hat man bei Inter auch gegen Parma beobachtet:
Als die gegnerische Abwehrkette sich verschob, um den Flügel zu verteidigen, nutzte Inter das Spiel über Doppelpässe, um die Mannorientierung zu sprengen. Die Fähigkeit von Mkhitaryan, vertikal zu spielen, ist dabei herausragend – und Barella (als ballnaher Achter) verhindert jegliches Übergewicht auf Bayern-Seite.
Feinjustierung – Kleine Stellschrauben, grosse Wirkung
Wie schon weiter oben am Beispiel des intelligenten Abseitsstellens von Upamecano gegen Adli gesehen, wird sich dieses Spiel mit Sicherheit in den kleinsten taktischen Details entscheiden, angefangen bei der Höhe des Defensivblocks.
Aus Sicht der Bayern – und genau hier dürfte der analytische Blick von Rene Maric ins Spiel kommen – ist klar:
In einem Umfeld, das vertikal herausfordert und die Struktur verzerrt, wird es entscheidend sein, die ideale Höhe der Abwehrlinie zu finden.
Wie die Szene zeigt: Ein zu hohes Aufrücken kann fatal sein, vor allem dann, wenn sich ein einzelner Verteidiger nicht mitbewegt oder überkompensiert und zu tief steht.
Ein gezielter Sprint im richtigen Moment könnte Inter sofort in eine gefährliche Lage bringen, wie es Juve im San Siro gelungen ist – perfekt für Kontergelegenheiten.
Rene Maric, der Thuram bereits bei Gladbach trainierte, wird zweifellos auf die Vorlieben des französischen Angreifers achten und sie analysieren.
Ein solcher Überlegungsprozess zur Blockhöhe lässt sich übrigens auch auf Inter anwenden.
Ohne Musiala, Coman und Davies verliert der FC Bayern viel vertikale Wucht und Direktheit, sei es durch Läufe in die Tiefe, Dribblings oder präzise Pässe. Auch Goretzka, der sich mit seiner physischen Präsenz gerne in den Strafraum schiebt, fehlt.
In dieser Konstellation ist Sané der einzige echte Spieler für Tiefenläufe – über Olise hatten wir bereits seine Komfort- und Schwachzonen analysiert. Es gibt also viele Gründe dafür, dass Inter ein hohes, überraschendes Pressing versuchen könnte, gerade gegen ein Bayern, dem es aktuell an direkten Antworten fehlt.
Das hohe Pressing – Überraschung im Champions-League-Finale 2023 – brachte damals sogar Manchester City ins Wanken. Guardiola selbst sprach später davon, dass er eine viel passivere Inter-Variante erwartet hatte.
Wie man unten sieht, hat der FC Bayern gegen 5-3-2-Formationen – wie jene von Leverkusen – ein klares Muster entwickelt:
Ein Offensivspieler (oft Musiala) lässt sich aus dem Block fallen, um sich freizuspielen und das Spiel vor sich zu haben.
Mit einem hochstehenden Aussenverteidiger – wofür Davies wie geschaffen ist – bindet man den gegnerischen Wingback, während Coman diagonal in den linken Halbraum stossen kann. Das macht Bayerns Angriff extrem vertikal und scharf.
Doch genau diese drei Spieler fehlen. Das bedeutet: Inter hätte allen Grund, seinen Block höher zu schieben.
Auf der anderen Seite ruht Bayerns kreative Hoffnung – mehr oder weniger im Stand – auf Olise. Der Franzose könnte mit seiner Präzision im Passspiel glänzen, wenn der Gegner hoch steht. Aber: Es fehlen momentan eher die Abnehmer als die Zulieferer beim FCB.
Sané wird dabei besondere Aufmerksamkeit zuteil werden müssen – gerade wegen seiner Fähigkeit, in den Raum zu stossen. Er hat Inter in dieser Disziplin bereits vor zwei Jahren wehgetan.
Damals allerdings spielte der FC Bayern unter Nagelsmann mit Coman, Sané, Mané und Davies – eine ganz andere Wucht, um alle Blockhöhen zu bespielen…
Tuesday Night Fever – Wenn der Moment den Plan trifft
Es ist keine neue Erkenntnis: So taktisch anspruchsvoll die Champions League auch ist – sie wird oft durch Momente entschieden.
Es gibt keinen Widerspruch zwischen Strategie und Instinkt. Der Sieg entsteht, wenn Plan und Momentum zusammenfinden – und die Niederlage, wenn sie sich entkoppeln.
Inter, vor zwei Jahren im Finale, hat seither wertvolle Erfahrung im Umgang mit solchen Momenten gesammelt.
Der FC Bayern hat Leverkusen mit kühler Defensivstrategie kontrolliert – und mit gnadenloser Transition bestraft. Genau in diesem Bereich zeigte sich Inters Hintermannschaft um Acerbi zuletzt anfällig.
Auch bei Standards waren die Münchner zuletzt brandgefährlich – ein Bereich, den Inter gegen Arsenal besonders ernst nahm. Diesmal wird man wieder wachsam sein müssen.
Das perfekte Szenario für Bayern: Inter im Umschaltmoment den Ball abjagen und in Unordnung erwischen. Dafür braucht es jedoch eine mutige Defensivleistung mit absoluter Kontrolle der vertikalen Räume.
Jede Ballberührung von Kimmich und Çalhanoğlu wird am Dienstagabend unter Strom stehen. In einem Spiel mit solcher taktischer Dichte wird das Duell auf Distanz zwischen den beiden Registi zum poetischen, spannungsgeladenen Höhepunkt.