Bayern vs Bayer: Wie Leverkusen den Rekordmeister in der Bundesliga erdrückte
Als europäische Gegner treffen Bayern und Bayer in einem mit Spannung erwarteten Duell aufeinander. Doch bevor es soweit ist, gab es in der Liga eine echte Generalprobe – mit einem klaren Ziel: die deutsche Meisterschaft. Mit einer weissen Weste machte Bayern einen grossen Schritt Richtung Titelrückeroberung, den sie letzte Saison an Bayer 04 abtreten mussten. Doch die Münchner wurden über 90 Minuten dominiert und gehen mit einer ordentlichen Portion Demut in das kommende Duell. Hier die taktische Analyse von Xabi Alonsos (fast…) perfektem Matchplan.
Im Vergleich zu den bisherigen Duellen – dem 3:0-Heimsieg von Leverkusen im Rückspiel der letzten Saison oder dem 1:1 in der Allianz Arena in dieser Spielzeit – änderte Xabi Alonso seine Herangehensweise radikal. Diesmal setzte Bayer auf extrem hohes Pressing, spielte mutig und dominant. In den früheren Begegnungen hatte Leverkusen eher auf einen tiefen, abwartenden Block gesetzt – diesmal nicht.
Das 4-2-4 der Spitzenspiele
Seit seiner Ankunft vor zwei Jahren hat Xabi Alonso ein System rund um mehrere Schlüsselspieler aufgebaut. Besonders prägend sind dabei die beiden Wingbacks im 3-4-1-2/3-4-2-1: Grimaldo und Frimpong.
In Leverkusens Spielstil – scharf, vertikal, zielgerichtet – beherrschen diese beiden die Aussenbahnen. Doch sie sind weit mehr als klassische Flügelspieler: Ihre Tiefenläufe führen sie immer wieder ins Zentrum, wo sie als zusätzliche Stürmer auftauchen.
Wenn Boniface fehlte oder nicht in Form war, rückten Grimaldo und Frimpong vermehrt ins Zentrum auf – etwa im Europa-League-Finale oder in der Halbfinalpartie im letzten Jahr.
Gegen Topgegner wie Atlético Madrid stellte Alonso auf eine Viererkette um – mit Hincapié und Mukiele als Aussenverteidiger. Grimaldo und Frimpong rückten eine Linie nach vorne. Defensiv bringt diese Anpassung mehr Stabilität und Laufstärke, offensiv kann Alonso die Explosivität und Abschlussstärke seiner Wingbacks gezielt ausspielen.
Also: Evolution oder Revolution? Die Bayer 04 ist hybrid. Leverkusen bleibt flexibel, kann jederzeit von aggressivem Pressing in einen kompakten tiefen Block wechseln.
Gegen Bayern entwickelte sich ein einseitiges Spiel – 13:2 Torschüsse zugunsten von Bayer 04 sprechen eine klare Sprache. Leverkusen eroberte das Mittelfeld mit einer Kombination aus hohem Pressing und gnadenloser Intensität.
Das Herzstück: 2-2-Wirtz-5
Alonsos Aufbau beginnt normalerweise mit drei Innenverteidigern und einem zentralen Mittelfeldduo (Xhaka – Palacios). Gegen Bayern opferte er einen Innenverteidiger und baute mit einer 2+2-Formation auf: [Tah - Tapsoba] + [Xhaka - Palacios].
Diese Viererkette wurde direkt von Bayerns Offensivachse [Kane – Musiala] und [Kimmich – Pavlovic] angelaufen. Wirtz positionierte sich etwas höher und öffnete so direkte Passwege vom Torhüter zu ihm.
Gleichzeitig schoben Hincapié und Mukiele extrem hoch – bis auf eine Linie mit Bayerns Abwehr.
Bayerns Pressing wurde durch diese Anordnung komplett deformiert. Coman und Olise wurden praktisch zu Aussenverteidigern gezwungen. Und das neben einer Abwehr, die von Kim regelrecht im Stich gelassen wurde – weil er sich weit nach vorne wagte, um Wirtz zu verfolgen… (denn irgendjemand muss es ja tun), sonst würde sich der deutsche Virtuose einfach aufdrehen und den ersten Bruch in der Struktur erzeugen.
Hrádecký spielte lange Bälle gezielt in die Duelle Hincapié gegen Coman oder Mukiele gegen Olise. Bayern hatte keine klare Struktur im Ballgewinn und fand keinen Ausweg aus Leverkusens Gegenpressing.
Da sich der FCB individuell an den Block von Bayer angepasst hatte, wurden seine eigenen Mannorientierungen automatisch zu denen seines Gegners.
Leverkusen zwang den Bayern damit ein brutales Gegenpressing auf, drängte sie nach hinten und erzwang Ballverluste – so gewann die Werkself rund 50 Meter Raum und konnte sich tief in der Münchner Hälfte regelrecht einquartieren.
3-4-1-3
Direkt nach der Ballgewinn-Phase – oder sogar schon währenddessen – beginnt Bayer, angeführt von Tapsoba und Tah, seine enorme zentrale Offensivpräsenz aufzubauen.
Wichtig dabei: Wenn ein Trainer, der sein Handwerk beherrscht, sein System scheinbar komplett umkrempelt, täuscht das oft. Die grundlegenden Spielprinzipien bleiben gleich – sie werden nur anders umgesetzt.
So auch hier: Sobald Bayer sich in der gegnerischen Hälfte festsetzt, direkt nachdem der lange Ball bei Olise gelandet ist, rückt Mukiele ein und bildet fast automatisch eine Dreierkette.
Hincapié agiert in dieser Phase klar als Wingback, sodass Alonso gewissermassen zu seinem gewohnten 3-4-1-2 zurückkehrt: Hincapié als linker Wingback, Mukiele als rechter Halbverteidiger, davor das bewährte Doppelsechser-Paar mit Xhaka und Palacios, sowie Wirtz als klassische Nummer 10.
Der grösste Unterschied: Vor Wirtz agieren diesmal nicht nur zwei Spieler, sondern gleich drei – Frimpong, Grimaldo und Tella.
Im Prinzip also eine Art 3-4-1-3, mit einer Besonderheit: Der gegenüberliegende Wingback (also der rechte, wenn der Angriff über links läuft) bleibt bewusst „unsichtbar“. Diese Asymmetrie ist kein Zufall, sondern passt perfekt zur Philosophie von Leverkusen, die Breite nur minimal zu nutzen und die zentrale Überzahl gnadenlos auszuspielen.
Mit diesen drei pfeilschnellen Spielern, die sich auf engstem Raum bewegen (ganz zu schweigen von Wirtz…), wurde die Viererkette der Bayern – in der Kim inzwischen wieder in seine Position zurückgekehrt war – extrem gefordert.
Dank der stabilen Basis aus [Tah – Tapsoba – Xhaka – Palacios] und dem zusätzlichen Angebot durch Mukiele war es fast immer möglich, innerhalb kürzester Zeit einen Spieler frei mit Blickrichtung nach vorne zu finden.
Und genau das reichte aus, um diese typischen, flachen und scharf gespielten Vertikalpässe in die Spitze zu schicken – Pässe, die die explosiven Offensivspieler von Leverkusen geradezu lieben und mit ihrem unverwechselbaren Stil verarbeiten.
Durchlassen & "Diagonalität"
Tapsoba suchte konsequent die direkte flache Vertikalpasslinie – oft nach nur einem Kontakt. Bayer nutzte jede Unordnung im Bayern-Pressing, um diese Bälle sofort in die Sturmreihe zu spielen. Bereits in der dritten Minute führte dieses Muster zu einer gefährlichen Szene, als die Bayern-Abwehr aus dem Gleichgewicht geriet:
Da sich Kimmich und Pavlovic voll auf Xhaka und Palacios konzentrieren, können sie der eigenen Viererkette keinerlei Unterstützung bieten. Die Abwehr muss sich also in höchster Eile neu formieren – konfrontiert mit den drei Leverkusener Spitzen, die durch ihre extrem zentrale Positionierung automatisch die besten Ausgangspositionen einnehmen.
In genau diesem Moment zeigt sich einer der markantesten Offensivmechanismen unter Xabi Alonso:
Der Empfänger dieser langen Pässe der Innenverteidiger hat im Grunde zwei Optionen:
- Er lässt den Ball einfach passieren („Durchlassen“).
- Oder er touchiert ihn nur minimal, um ihn leicht abzulenken.
Auch wenn die drei Angreifer oft fast exakt auf einer horizontalen Linie stehen, reicht es völlig aus, wenn nur einer von ihnen beim Abspiel von Tapsoba nicht im Abseits steht – dann ist die gesamte Aktion regelkonform.
So entsteht eine taktische Raffinesse: Der Spieler, der den Ball durchlässt – in diesem Fall Tella – kann sich sogar im Abseits befinden, solange er den Ball nicht berührt.
Genau das führt zu der Szene, in der man Laimer sieht, wie er sich am Abseits orientiert und sofort den Arm hebt – im festen Glauben, dass Tella den Ball gleich annehmen wird.
Natürlich gilt: Wenn der erste Spieler den Ball leicht abfälscht, muss der Empfänger dieses abgefälschten Balls wiederum in einer regulären (also nicht abseitsverdächtigen) Position stehen. Das schliesst aber nicht aus, dass ein dritter Spieler im Moment der ersten Weiterleitung im Abseits steht – solange er erst später ins Spiel eingreift.
Angesichts all dieser Optionen und der zuvor beschriebenen mannorientierten Verformungen bleibt der Bayern-Abwehr oft nichts anderes übrig, als Stück für Stück zurückzuweichen – oder sich vielmehr förmlich zu verbiegen.
Genau das passiert, als Mukiele seinerseits einen scharf gespielten, flachen Ball in die Tiefe spielt: Tella signalisiert Grimaldo, dass er seinen Lauf starten soll, und lässt den Ball bewusst zwischen seinen Beinen hindurch.
Wirtz hat in der Zwischenzeit Kim herausgezogen, während Upamecano gezwungen wird, Tella in dessen Rückwärtsbewegung zu folgen. Als Grimaldo den Ball kurz kontrolliert, steht Laimer bereits drei Meter tiefer – aus naheliegender Vorsicht bei diesem permanenten Bewegungskarussell.
Der Spanier zögert kurz, bevor er Frimpong einsetzt – der klar von Ito gedeckt wird, der sich noch weiter zurückfallen liess. In diesem Moment hängt das gesamte Defensivgleichgewicht der Bayern nur noch am seidenen Faden dieses Duells Ito gegen Frimpong, während beide Innenverteidiger längst herausgezogen wurden.
Frimpong setzt sich in Bewegung, zieht an Ito vorbei – und wird vom Japaner mit einem taktischen Foul gestoppt. Das resultiert in einer Gelben Karte, denn der Niederländer war mit voller Wucht auf dem Weg zum Tor.
Breite und Überladungen
Neben der axialen Dichte setzte Leverkusen auch auf gezielte Überladungen auf den Flügeln. Einer der Sechser rückte bei Bedarf in die Dreierkette ein, wodurch die Aussenverteidiger (Hincapié und Mukiele) noch höher schieben konnten. So entstand eine „doppelte Breite“, die es Grimaldo und Frimpong erlaubte, in isolierten Eins-gegen-Eins-Situationen aufzutauchen.
Innerhalb weniger Minuten landete Bayer zwei Aluminiumtreffer – beide nach Angriffen über die linke Seite mit Grimaldo und Hincapié.
Zunächst in der 20. Minute, bei einer längeren Ballbesitzphase, in der die Umstellung auf eine 3+1-Struktur Kane und Musiala völlig aus dem Konzept bringt. Beide wirken schnell passiv und beinahe resigniert.
Tapsoba hat mit dem Gesicht zum Spiel eine perfekte Übersicht und erkennt die Möglichkeiten sofort. Währenddessen beschäftigt Wirtz gezielt Upamecano, zieht ihn aus der Kette, und parallel dazu starten Tella und Grimaldo eine Reihe von tiefen Läufen hinter die Abwehr.
Eingezwängt durch diese vertikalen Bewegungen und Laufwege, schiebt sich die Bayern-Defensive automatisch enger zusammen – genau in diesem Moment löst sich Hincapié geschickt von Olise, während Palacios Kane ins Zentrum zieht.
Sobald der Ecuadorianer aussen freigespielt wird, startet Grimaldo seinen Lauf in die Tiefe. Laimer kann das nicht mehr verteidigen, da er bereits ins Zentrum gezogen wurde – angelockt von der ständigen Präsenz und den cleveren Positionswechseln von Wirtz.
Vorne kümmern sich (zumindest in der Theorie) Upamecano und Kim gemeinsam um Tella. Doch die plötzliche, explosive Tiefenbewegung von Wirtz zwingt Upamecano dazu, ihn im Sprint zu stellen – aus der Not heraus.
Der Franzose stört den Abschluss gerade noch genug, um einen sauberen Torschuss zu verhindern – doch Wirtz gelingt es in bester Balanceakteur-Manier trotzdem, einen improvisierten Mix aus Flanke und Abschluss aus dem Fussgelenk zu zaubern. Neuer pariert spektakulär.
Doch Tella und Frimpong lauern bereits im Strafraum, setzen sofort nach – und am Ende landet Frimpongs Kopfball, dieser freche Versuch des niederländischen Wirbelwinds, krachend an der Latte.
Tellas Lattentreffer, nur wenige Minuten später, folgt genau derselben Logik:
- Während Leverkusen erneut seinen „langen Ball“-Plan aktiviert, klebt Xhaka konsequent an Pavlovic, um den zweiten Ball zu attackieren – genau in dem Moment, als der junge Münchner den Ball mit der Brust annimmt, Rücken zum Tor.
- Doch Olise wird ungeduldig und startet instinktiv in Richtung Gegenangriff.
- Unter diesem Druck verliert Pavlovic folgerichtig den Ball.
- Grimaldo und Hincapié nutzen die Gelegenheit sofort, überladen die linke Seite und bilden eine Doppelbesetzung im Flügelraum. Da Olise sich bereits nach vorne orientiert hat, wird Laimer auf dem Flügel völlig allein gelassen – und Grimaldo bindet ihn mühelos.
Hincapié, nun völlig frei auf dem Flügel, spielt einen präzisen Ball auf Tella, der sich geschickt hinter Upamecano wegschleicht – genau in jener steilen, diagonalen Bewegung, die zum Markenzeichen dieses Leverkusener Teams geworden ist.
Gleichzeitig sorgt Frimpong mit einem diagonalen Lauf aus dem Zentrum heraus dafür, dass Kim gebunden wird (ganz ähnlich wie Wirtz es in der vorherigen Szene getan hatte). Dadurch wird Upamecano jegliche Unterstützung genommen, um die Flanke zu verteidigen.
Auf beiden Szenen wird klar: Bayer achtet penibel darauf, den jeweils ballnahen Innenverteidiger zu binden, während Kim und Upamecano in ständiger Hektik gezwungen werden, ihre Positionen untereinander zu tauschen – fast wie in einem Tanz der Notlösungen.
Ein Punkt, der durchaus dazu führen könnte, dass der FC Bayern im kommenden europäischen Duell auf eine Fünferkette umstellt – auch wenn Upamecano sich zugutehalten kann, dass er den Schaden insgesamt noch halbwegs in Grenzen gehalten hat.
Die fehlende letzte Präzision
Trotz aller Dominanz und zahlreicher gefährlicher Situationen fehlte Leverkusen die letzte Konsequenz im Abschluss. Die extrem vertikale Spielweise ist zweischneidig: Sie erzeugt permanent Gefahr, aber die letzte Aktion – der Abschluss oder die finale Vorlage – ist oft zu hastig oder aus ungünstigem Winkel.
Ganz gleich, welches System Alonso wählt – seine Spielidee bleibt brutal vertikal. Ob durch das Zentrum oder über die Aussenbahnen: Leverkusen erzeugt Überzahl und Dichte, um minimale Lücken zu kreieren, die sofort attackiert werden.
Der kleine Zeitvorsprung, den die Aufbauspieler sich so erarbeiten, ist oft hauchdünn. Diesen Vorsprung zu halten – und dabei die Qualität zu haben, die Aktion sauber zu Ende zu spielen (was gegen einen Keeper wie Neuer schlicht unverzichtbar ist) – erfordert höchste Präzision sowohl im vorletzten als auch im letzten Kontakt.
Das ist die Kehrseite dieser extremen Förderung offensiver Verteidiger: Es fehlt manchmal an echter Exzellenz im Abschluss, und die komplexen geometrischen Gleichungen, die durch diese vertikalen Mechanismen entstehen, bleiben zu oft ungelöst.
Genau diese Verbindung zwischen dem vorletzten und dem letzten Kontakt ist wohl die grösste Stellschraube, an der Leverkusen noch drehen muss, um den Schritt vom „gut spielen“ zum „konsequent gewinnen“ zu machen.
Denn in allen anderen Bereichen des Spiels waren die Spieler von Xabi Alonso dem FC Bayern klar überlegen – so sehr, dass man sich völlig zu Recht fragen darf, ob der Rekordmeister für das Rückspiel in der Liga oder das europäische Aufeinandertreffen überhaupt noch als Favorit gelten kann.