Bayern–Inter: Taktische Erkenntnisse aus dem Hinspiel – und was sie fürs Rückspiel bedeuten
Angesichts eines von Verletzungen dezimierten Bayern hat Inter Mailand die Gelegenheit genutzt, sich vor dem Rückspiel in eine ideale Ausgangsposition zu bringen. In einer weiteren Anpassung seines bewährten 5-3-2-Systems setzte der italienische Taktiker auf die Defensivmechanismen des FC Bayern, dessen Block erneut durch seine individuellen Deckungen auseinandergerissen wurde. Ohne Ballbesitz zeigte Inters Herangehensweise eine gezielte Arbeit an den Offensivprofilen der Münchner. Inzaghi fand somit einen Weg, dem FCB einen hohen, aggressiven Block entgegenzustellen. Trotz spürbarer Schwierigkeiten mit den taktischen Justierungen der Nerazzurri kann der FC Bayern dennoch einige Hoffnungsschimmer für das Rückspiel schöpfen.
Einst kritisiert für die Unerschütterlichkeit seines 5-3-2, hat Simone Inzaghi seinen Ruf in den Medien nach der Champions-League-Kampagne 2023 wieder in realistischere Bahnen gelenkt. Jenseits der Ästhetik und Flexibilität seines Fussballs steht dieses Hinspiel-Viertelfinale ganz im Zeichen seiner Anpassungsfähigkeit – stets in Abhängigkeit vom jeweiligen Gegner – und erinnert damit an den einst so genannten „italienischen Unai Emery“.
Die Offensivcharakteristik und die Ausfälle des FC Bayern liessen ein Inter erwarten, das auch ohne Ballbesitz dominant auftreten würde. Gleichzeitig liess Kompanys Vorliebe für Manndeckung und „totales Pressing“ ein taktisch verheddertes Inter-System erwarten.
Und genau das trat ein: Inter sicherte sich eine vielversprechende Ausgangsposition – auch wenn die offensive Vorstellung der Bayern gewisse Argumente für eine mögliche Aufholjagd in der Lombardei offenliess.
Die Mannorientierungen des FC Bayern
Bereits in den ersten Auftritten unter Vincent Kompany war beim FC Bayern eine klare numerische Zielsetzung im Defensivspiel zu erkennen: durchgehender Druck auf den Gegner, der jede Möglichkeit nehmen soll, in der Spielvorbereitung einen freien Mann zu generieren. Der Preis dafür: Der Rekordmeister agiert auf der Gegenseite ohne echten Überzahlmechanismus.
Selbst Paris hatte seine gewohnte Ausrichtung leicht angepasst, um dieses Pressing mit langen Bällen zu überspielen.
In Leverkusen (Bundesliga) – trotz des gehaltenen Clean Sheets – war der FC Bayern strukturell klar unterlegen. Die Rigidität ihrer Manndeckung sorgte für massive Deformationen im Aufbau. In der Champions-League-Achtelfinalbegegnung gegen Xabi Alonsos Team wurde daher eine ausgewogenere Variante gewählt.
Der grosse Trumpf des FC Bayern – im Vergleich zu einem eher zonenbasierten Ansatz, der sich stärker am Ball und am Tor orientiert und die Position des Gegners bewusst ignoriert – liegt in der Proaktivität seiner Spieler.
Doch wie schon im Duell mit Xabi Alonso war zu erwarten, dass Inzaghi – ein taktisches Chamäleon – genau diese an sich positiven Eigenschaften der Bayern gegen sie einsetzen würde.
Inzaghis massgeschneidertes 4-3-1-2
Auch wenn dieses Spiel nicht unbedingt die beste Bühne war, um es zur Geltung zu bringen – das Defensivkonzept des FC Bayern folgt einer klaren Logik:
Mit der Entscheidung, im Spielaufbau des Gegners durchgehend Druck auszuüben, gleichzeitig aber auf defensive Absicherung zu verzichten, sichert sich Kompany (vorausgesetzt subtile Anpassungen zur Blockverdichtung oder gegenseitiger Absicherung greifen) eine extrem aggressive Mannschaft. Man erinnert sich: Die Bayern hatten kürzlich drei Spiele ohne Gegentor gegen Leverkusen bestritten.
Das zentrale Argument für dieses Risiko lautet: Es ist kein Weltuntergang, wenn man 2-gegen-2 in 50 Metern Entfernung zum eigenen Tor steht.
Das seitliche Verschieben der Abwehrreihe sowie der Druck auf die gegnerische Spieleröffnung sollen genügen, um die nötige Balance für diesen aggressiven Ansatz herzustellen.
Gegen eine stereotypisierte Ballzirkulation mit klar definierter Raumaufteilung könnte dieser Ansatz durchaus Wirkung zeigen, zumal das eigene Tor statisch bleibt.
Problem: Diese offensiven Trägheitsmuster treffen nicht auf Inter – eine Mannschaft, die wie kaum eine andere als taktisches Chamäleon auftritt – zu.
So setzte Inzaghi auf einen Plan, der zwar auf den ersten Blick seltsam anmutet, bei genauerer Betrachtung jedoch streng logisch ist.
In einer Art 4-3-1-2-Formation sorgte er gezielt dafür, dass die Mittelfeldspieler der Bayern weit aus ihrer Abwehrlinie gelockt wurden. Und – was entscheidend ist – daran gehindert wurden, im Rückraum eine Art Überzahl bzw. Gleichgewicht herzustellen.
Der Beweis für die Bedeutung dieses Problems aus Bayern-Sicht: Die Rolle von Kimmich wurde zwischen den beiden Spielen gegen Leverkusen (Bundesliga und CL) angepasst, um der bayerischen Abwehr personelle Unterstützung zu sichern.
Der italienische Coach stellte die Aussenverteidiger und zentralen Mittelfeldspieler der Bayern vor ein klares Dilemma – ein taktisches Ultimatum:
- Entweder ihr rückt heraus, dann spielen wir lang – im 2v2 oder 3v3.
- Oder ihr bleibt tief, dann kommen wir mit Kurzpassspiel durch die Linien.
Die zentrale Idee hinter diesem Vorgehen: Sieben Spieler gezielt ins Spiel bringen, um die Bayern aus ihrer Ordnung zu locken, und sie anschliessend mit Dynamik aus dem Gleichgewicht zu bringen.
In dieser beweglichen Struktur – mit bemerkenswerter Austauschbarkeit der Akteure – kristallisiert sich ein klares Muster gegen die typische wechselseitige Deckung der Bayern heraus: Ein Zurückfallen von Lautaro, kombiniert mit einem Tiefenlauf von Thuram und dem Nachstossen eines Aussen- oder Mittelfeldspielers.
So wurde „El Toro“ gewissermassen zum Zehner, zum ersten Anspielpunkt im Inter-Aufbau, der gezielt die Manndeckung des FC Bayern auf sich zog.
Kim und Dier gerieten mit diesem Spielzug schnell in grosse Schwierigkeiten – ganz im Sinne des Plans von Coach Inzaghi.
Eine der Schlüsselideen hinter dieser Spielmanipulation war selbstverständlich, die drei Inter-Mittelfeldspieler so weit wie möglich voneinander zu entfernen – und damit jede gleichmässige oder „positionelle“ Raumaufteilung zu unterlaufen.
Im Anschluss an diese Spielsequenz – nachdem Pavard Lautaro findet – improvisiert sich Barella kurzerhand als rechter Innenverteidiger. Während Çalhanoğlu und Mkhitaryan darauf achten, die beiden anderen Bayern-Mittelfeldspieler weiter wegzuführen, schafft die Beweglichkeit der Inter-Akteure Barella einen kleinen Moment der Freiheit.
Kompany gibt seiner Abwehrreihe das Kommando zum Hochrücken, doch es entsteht sofort Verwirrung zwischen Manndeckung und Abseitsfalle.
Erneut entscheidet sich Dier für die vorsichtige Variante und deckt Lautaro ab, während er gleichzeitig versucht, Thuram im Blick zu behalten. Barella spielt einen punktgenauen Ball auf den argentinischen Stürmer, und Kim muss sich – wie so oft – im Alleingang um die Absicherung kümmern.
Das bayerische Defensivgefüge, in die Länge gezogen und ständig verformt, bricht in der 37. Minute zusammen. In diesem Moment liegt der Ballbesitz übrigens klar bei Inter.
Während der entscheidenden Spielphase agiert Bastoni als Aussenverteidiger in einem asymmetrischen 4-3-3, und die doppelte Breite, die er zusammen mit Carlos Augusto aufzieht, richtet erheblichen Schaden beim FC Bayern an.
Allerdings erkennt man bei genauerem Hinsehen das Bemühen von Olise und Goretzka, nicht zu überhastet herauszurücken. Beide verdichten kompakt um den Ball und vermeiden unnötige Eins-gegen-eins-Situationen.
Dieser strukturelle Balanceakt reicht jedoch nicht aus: Mit dem gewonnenen zweiten Ball und ihrem Sturmduo sichert sich Inter genau jenen kleinen Vorsprung, der auf diesem Niveau spielentscheidend ist.
Trotz der bayerischen Anpassungsversuche bleibt es nahezu unmöglich, mit der ständigen Positionsrotation der Inter-Spieler Schritt zu halten:
Die Münchner können sich auf kein klares Defensivschema stützen und verlieren zwangsläufig irgendwann den Zugriff.
Bastoni täuscht den Pass auf Augusto (der im Abseits steht), lässt Olise ins Leere laufen und spielt dem Brasilianer – schliesslich – den Ball zu.
Seine punktgenaue Flanke – haarscharf an der Abseitslinie – erlaubt Thuram zwar nur den Ball klatschen zu lassen, aber das permanente Spiel mit gekreuzten Laufwegen verschafft Lautaro genau die Freiheit, die Inzaghi sich erhofft hatte.
Transitions, Isolationen und taktisches Risiko
Gegen diese polymorphe Mannschaft – gegen die Olise und Sané merklich herumgeschubst wurden – bestand die Herausforderung für die Bayern (und bleibt es!) darin, das richtige Mass an Intensität beim Anlaufen der Inter-Spieler zu finden.
Auf dem bereits oben gezeigten Screenshot sieht man gut, wie Goretzka sich entscheidet, gegen das bizarre 4-3-1-2 von Inzaghi nicht (zu weit!) auf Mkhitaryan herauszurücken.
Der deutsche Koloss fängt Bastonis Pass ab. Er findet Olise, der wiederum Guerreiro startet, während Kane ebenfalls einen leicht nach aussen versetzten Laufweg anbietet.
Doch wie soll man ein standardisiertes Defensivverhalten koordinieren, wenn der Gegner mit so vielen strukturellen Variationen aufwartet?
Man erkennt zudem, dass der „Sechser“ im 4-3-1-2 – wobei diese Rolle bei Inter nicht einem fixen Spieler zugewiesen ist – klar den Auftrag hatte, beim Ballverlust den Passweg zu Kane zu blockieren.
Ein Beispiel dafür zeigt sich in dieser verpassten Offensivtransition der Bayern, die kurz vor dem 0:1 stattfindet und es Inter ermöglicht, hoch zu bleiben.
Ein Vorgehen, das für den englischen „Neuner“ nicht gerade schmeichelhaft ist – Inzaghi scheint keine allzu grosse Angst vor seiner Fähigkeit gehabt zu haben, sich schnell aufzudrehen. Im Gegensatz zu Olise oder Kimmich, die von den Italienern klar intensiver überwacht wurden.
Inter rückt vor: Kane in der Falle, Olise in Ketten
Gegen einen Trainer, der nie eine Gelegenheit auslässt, seine Mannschaft nach vorne zu schieben, war es absehbar, dass Inter angesichts der zahlreichen Ausfälle eine offensive Grundhaltung einnehmen würde – auch wenn das bedeutete, einige Dutzend Meter Raum in der Tiefe preiszugeben.
Ohne Davies, Musiala und Coman hatte der FC Bayern – mit Sané – nur einen echten Kandidaten für Tiefenläufe. Wie bereits in dieser Analyse dargelegt, ist das ohnehin nicht das bevorzugte Terrain des langgliedrigen Olise.
So ging Inter das Risiko ein, Bastoni oder seinen Wingback in direkten Duellen gegen Olise zu belassen – jedoch weit entfernt vom eigenen Strafraum. Befand sich Laimer allein im Halbraum, rückte der jeweils nächste (zwischen Bastoni und Augusto) mit voller Wucht heraus – ohne Zögern – wodurch Inter (wie passend…) in ein 4-4-2 überging.
Gleiches Prinzip im mittleren bis tiefen Block. Hier sieht man Bastoni, der sofort herausschiebt – diesmal gegen Laimer.
Das war im Achtelfinale gegen das 5-3-2 von Xabi Alonso besonders deutlich: Kimmich – der gegen Leverkusen zu oft mit dem Gesicht zum Spiel gefunden wurde – ist das kreative Herzstück des FC Bayern.
Inter schenkte dem deutschen Sechser gezielte Beachtung:
- Durch einen „Achter“, häufig Barella, wenn Thuram und Lautaro die Innenverteidiger anliefen (wie oben zu sehen),
- Oder durch Thuram bzw. Lautaro selbst in tieferen Blockphasen – wie bei dieser enormen Intervention des Argentiniers vor dem Führungstreffer:
Schon beim ersten Spielaufbau der Bayern erkennt man die differenzierten Intensitäten der Überwachung, während Inter den hohen Block etabliert. Kimmich (durch Barella) und Olise (durch Bastoni) werden engmaschig beobachtet, während Lautaro und Thuram die Innenverteidiger attackieren
Während Kim unter Druck gerät, sucht er Olise an der Aussenlinie im Fuss an. Der Franzose legt auf Kane ab, wobei Acerbi ihm bewusst etwas Raum lässt – wohlwissend, dass er sich nicht schnell genug mit dem Rücken zum Tor aufdrehen kann. Die Entscheidung von Kane, mit dem ersten Kontakt zu spielen, scheint diesen Ansatz zu bestätigen.
Die Fähigkeit, die Inter Olise hier abspricht: die Tiefe anzugreifen – daraus resultiert dieser hohe Block.
Allerdings flirtet Inter bei dieser Szene beinahe mit einem Elfmeter, denn Olises offensive Defizite in puncto Spritzigkeit und Richtungswechsel sind auch nicht unbedingt Bastonis Stärken – beide Akteure sind lange Beine mit eher behäbigem Antritt.
Und dennoch kam es in dieser Partie oft genug zu solchen leichten Durchbrüchen, um dem FC Bayern Hoffnung zu machen.
Kanes Pfostenschuss war dabei das Resultat einer Vorlage von Pavard – nachdem Inter Sanés Durchschlagskraft gut neutralisiert hatte, der engmaschig von Pavard und Darmian verfolgt wurde.
Raumgewinne gegen tiefen Block – reicht das, um die Formel zu wiederholen?
Zwar ging Inters Plan im hohen Pressing weitgehend auf, doch beim Zurückziehen leisteten sich die Nerazzurri einige Unachtsamkeiten.
Ein wiederkehrendes Muster in diesen brenzligen Momenten: Den zweiten Pfosten nach einer breit angelegten Aktion ins Visier nehmen.
Da Olise auf der rechten Seite am breitesten steht, erfordert er besondere Aufmerksamkeit. Der ballnahe Innenverteidiger wird jedoch häufig durch die notwendige Absicherung für den Wingback gebunden – was bereits zwei potenzielle Verteidiger für einen möglichen Flankenball neutralisiert.
In diesem Moment wird die Besetzung des ersten Pfostens durch den zentralen Innenverteidiger (hier Acerbi), der im Idealfall den Querpass abschneidet – wie ein Abwehrspieler bei einer Ecke – zur Schlüsselfrage.
In dieser frühen Szene wird der italienische Routinier durch sein Herausrücken gegen Laimer aus der Linie gezogen, während Olise sich für den Rückpass auf den Österreicher entscheidet.
Als Olise erneut angespielt wird, bleibt ihm nur der Versuch, mit rechts scharf hereinzuflanken (die doppelte Deckung durch Mkhitaryan ist auf dem Weg). Seine Hereingabe mit rechts ist etwas unpräzise, nicht druckvoll genug.
Hätte er diese Aktion sauber zu Ende gespielt, hätte er den perfekten Winkel gehabt, um Kane zu bedienen – zumal Guerreiro Pavard clever mitgezogen hatte.
So zeigt sich, wie schnell man von fünf auf zwei Verteidiger reduziert sein kann.
Auf der linken Seite, wo er nicht nach innen ziehen kann, ist Sané leichter auszurechnen und wird grössere Mühe haben, ähnliche Situationen zu kreieren.
Ein Dominoeffekt, der sich auch beim 1:1 zeigt: Bastoni – ausgelaugt von seiner ständigen Auseinandersetzung mit Olise – ist zu weit weg, um Müller noch zu stellen, der schliesslich trifft. Gleiches gilt für Pavard, der die Flanke von Laimer (inzwischen als Linksverteidiger agierend) nicht unterbindet.
So bleiben dem FC Bayern vor dem Rückspiel einige Hoffnungsschimmer… vorausgesetzt, man hält hinten dicht.
Allerdings scheinen die kleinen Schwächen von Inter weitaus leichter korrigierbar von einem Spiel zum nächsten. Beim FC Bayern hingegen – wie die Schwierigkeiten im Umgang mit Inzaghis zahllosen Offensivschemata gezeigt haben – wird es alles andere als einfach, einen stabilen, belastbaren Defensivplan zu entwickeln.