Alles andere als eine Selbstverständlichkeit
Marco Odermatt wird den hohen Erwartungen auch in diesem Winter gerecht. Die Erfolge sind auch für den Überflieger der Szene alles andere als selbstverständlich.
"Er wirds schon wieder richten." Natürlich hat er es wieder gerichtet. Natürlich ist er auch in diesem Winter wieder der Beste. Im Gesamtweltcup ist er es zum vierten Mal, im Super-G-Weltcup zum dritten Mal hintereinander. Im Riesenslalom und in der Abfahrt sieht es für ihn ebenfalls gut aus. Natürlich wieder der Beste? Ja, weils zur Normalität geworden ist, dass Marco Odermatt den Gesamtweltcup gewinnt, dass er auch in "seinen" Disziplinen die Nummer 1 ist, sozusagen im Vorbeigehen weitere Kristallkugeln einheimst.
Es ist zur Gewohnheit geworden, dass Odermatt vorneweg fährt. Seinen Erfolgen haftet die Selbstverständlichkeit an. Die Bandbreite zwischen Erfolg und unerfüllter Erwartungen ist für den Nidwaldner seit Beginn seiner Dominanz stetig schmaler geworden. Siege sind der Anspruch, Podestplätze werden zur Kenntnis genommen, Klassierungen ausserhalb der ersten drei werfen Fragen auf.
Odermatt hat mit dieser enormen Erwartungshaltung zu leben, diesem Druck, an dem schon so mancher Spitzensportler zerbrochen ist. Er aber weiss damit umzugehen. Er nimmt die Rolle an, die sein Status mit sich bringt. Er schafft das, weil er in sich nichts Besonderes sieht, weil er stets sich selber, Mensch geblieben ist. Sportliche Höhenflüge sind für ihn nicht dazu da abzuheben. Er fühlt sich am wohlsten mit beiden Füssen fest auf dem Boden verankert. Odermatt hat Grundsätze wie Bescheidenheit, Respekt und Anstand verinnerlicht.
Odermatt mag in seinem sportlichen Alltag das Gemeinsame. Er hat deshalb nie mit dem Gedanken gespielt, als Skirennfahrer eigene Wege zu gehen, sich von Mannschaftskollegen abzunabeln, ein privates Team auf die Beine zu stellen. Das Leben in der Gruppe sagt ihm zu. Er ist nicht nur der willkommene Gradmesser, sondern auch Vorbild und Ratgeber. In seinem Sog haben sich die jungen Schweizer im Speed-Sektor prächtig entwickelt, schneller als gedacht. So schnell, dass sie schon oft schneller als er selber gewesen sind in den Rennen. Odermatt hat kein Problem damit. Auch er kann an der Herausforderung als Skirennfahrer weiter wachsen. Diese Einheit ist nicht nur für die Emporkömmlinge und für Swiss-Ski ein Glücksfall, sondern auch für Odermatt selber.
Auch wegen den "jungen Wilden" in der Schweizer Equipe hat Odermatt in der zu Ende gehenden Saison nicht so oft gewonnen wie in den beiden vorangegangenen Wintern. 13 Siege hatte er da jeweils zustande gebracht, dazu vor zwei Jahren die WM-Titel in Abfahrt und Riesenslalom geholt. Derzeit steht er bei acht ersten Plätzen im Weltcup, Weltmeister ist er im Super-G geworden. Die Nörgler sehen in dieser Zwischenbilanz einen Rückschritt und einen Favoriten, der sich schwerer getan hat als zuvor. In Österreich hat der Boulevard Odermatt an der WM in Saalbach zu den "Verlierern" gezählt.
Odermatt hat diese Einschätzung zur Kenntnis genommen. Er hat sich darüber wohl seine Gedanken gemacht, seine Meinung aber lediglich in einem kurzen Satz kundgetan. "Das stört mich nicht." Die Meinung der Marktschreier von Österreichs Medien mag völlig übertrieben sein. Einen Funken Wahrheit ist ihr gleichwohl nicht abzusprechen, nämlich die, dass für Odermatt eben andere Massstäbe gelten.
Dieser andere Massstab wird auch bei der Bilanzierung dieser Saison zur Anwendung kommen. Da werden kritische Anmerkungen nicht fehlen. Da wird es den Hinweis geben, dass Bestmarken fehlen, dass Odermatt das Rekord-Total, das er vor zwei Jahren auf 2042 Punkte geschraubt hat, deutlich verfehlt hat. Oder dass auch der Rekord-Vorsprung von 874 Punkten aus dem letzten Jahr unangetastet geblieben ist.
Es gibt aber auch die andere Betrachtungsweise, die das genauere Hinsehen erfordert. Odermatt ist auch in diesem Winter in vielerlei Hinsicht der mit Abstand Erfolgreichste. Er hat Stand jetzt doppelt so viele Weltcup-Rennen gewonnen wie der Zweitbeste. Der Franzose Clément Noël ist im Slalom bisher viermal Erster geworden. Mit 15 Podestplätzen hat Odermatt die Nase ebenfalls deutlich vorne. Der Norweger Henrik Kristoffersen als Nächstbester weist im Moment acht Klassierungen in diesem Bereich aus.
Es sind einmal mehr aussergewöhnliche Zahlen für einen, dessen Terminkalender mehr Einträge hat als der seiner direkten Konkurrenten. Was oft vergessen wird: Odermatt misst sich ausnahmslos mit Spezialisten. Er muss in der Vorbereitung auf die einzelnen Wettkämpfe Kompromisse eingehen, mehr Aufwand betreiben, sich immer wieder anpassen. Die Umstellung von der Abfahrt zum Super-G ist kein allzu grosser Schritt, der Riesenslalom dagegen ist gefühlt eine andere Sportart - anders in Bezug auf das Material, anders in Bezug auf die körperliche Belastung. Die Bewegungsabläufe unterscheiden sich markant.
Das umfangreiche Programm wird Odermatt vorerst beibehalten. Er wird den eingeschlagenen Weg weitergehen, an seinen Prinzipien festhalten - zumindest noch in den kommenden zwei Jahren. Über die Bücher geht er, wie er schon vor Beginn dieses Winters während den letzten Vorbereitungen im Trainingslager in Copper Mountain, Colorado, gesagt hat, nach der Weltmeisterschaft in Crans-Montana in der übernächsten Saison. Ein reduziertes Pensum mit der Konzentration auf Abfahrt und Super-G hält er dannzumal für möglich.
Gezielt will sich Odermatt mit der Planung der ferneren Zukunft nicht befassen. Auch als hochdekorierter Fahrer verfolgt er weiterhin Ziele, hat er noch reizvolle Aufgaben vor sich. Er will den Ansprüchen, auch den eigenen, weiterhin gerecht werden. Er ist bereit, es auch in Zukunft zu richten.